- 44 -
eine
pflanzengleiche Existenz „entarten”.2
Denn für Pico sollte der Mensch als „Former und Bildner
seiner selbst” seinen höheren Möglichkeiten folgen,
sollte beflügelt sein durch den „heiligen Ehrgeiz”,
das Irdische zu verschmähen und Stufe um Stufe auf der
Himmelsleiter zu erklimmen.3
Steht
Pico damit ontologisch und ethisch noch in der
christlich-neuplatonischen
Tradition einer Hierarchie
der Seinsformen, so leitet er doch in
anthropologischer Sicht den subtilen Ausbruch aus
jeder dogmatisch verpflichtenden
Theologie ein:
Der Mensch kann und muß sich frei entscheiden, was er aus sich und
dem ihm Überlieferten macht.
Eine
Ermutigung zur Autonomie, die bei Pico stärker
gattungsspezifisch gehalten ist, während sie als
individuelle (Gewissens-)Forderung
nach geistigem Mut drei Jahrhunderte später in den
Mittelpunkt der Aufklärung rücken wird (Kants
„Sapere aude!” von 1784)4.
Im Zeitalter
des Renaissance-Humanismus war zu dieser
Ermunterung nicht weniger Mut erforderlich,
konnte sie doch wie überhaupt jeder selbständige
Gedanke ohne weiteres als Ketzerei in Verruf gebracht
werden. Und die
theologische
Geistespolizei witterte das Subversive an dieser
neuen Denkweise. Auf den Index gesetzt worden war aus
dem Florentiner Humanistenkreis
schon Giannozo Manettis relativ zahmer Traktat De
dignitate et excellentia hominis/
Über
die Würde und Erhabenheit des Menschen
(1452), der den Menschen als Vollender der göttlichen Schöpfung
feiert, dessen Bestimmung aber weiterhin im
Lobpreisen dieses Schöpfers
liege.5
So wurden denn auch die 900 von Pico ausformulierten
Thesen, die Conclusiones
philosophicae, cabalisticae et theologicae,
die er auf dem von ihm einzuberufenden
europäischen Gelehrtenkongreß
verteidigen wollte, wegen 13 anstößiger
Thesen einer kirchenrechtlichen Untersuchung unterzogen und nach Picos Widerspruch
-----------------------------------------------------
2
Oratio,
a.a.O., S. 9
3
a.a.O., S. 19-21
4
„Aufklärung
ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten
Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich
seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.
Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit,
wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes,
sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich
seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.
Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes
zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.”
(Eröffnungspassage von Kants Beantwortung
der Frage: Was ist Aufklärung?
in der Berlinische
Monatsschrift
vom Dezember 1784)
5
De
dignitate et excellentia hominis,
übers. von Hartmut Leppin, hg. und eingeleitet von August Buck
(Hamburg 1990). Manetti läßt seinen Zitaten der Klassiker
ständig Rückversicherungen durch
Kirchenväter wie hier durch Augustinus
folgen: „Es machte also Gott den Menschen, damit dieser seine
wunderbaren Werke verstehe und ein zuverlässiges
Wissen von ihnen gewinne und so ihren Verfertiger
erkenne und verehre.” (a.a.O.,
S. 95)