Herder führt in seinem Werk jedoch Pico nirgendwo an, so daß ich eine dritte Quelle hinter beiden vermute.2 Während nun bei dem Renaissancehumanisten
der göttliche Appell an die Freiheit des Menschen abstrakt
bleibt und nicht zu erkennen ist, wie dieses durch keine
besondere Eigenschaften determinierte
Wesen sich selber seine Lebensform geben könne,
lautet bei Herder der Appell an das zu einem „Kunstwerk”
geformte Geschöpf konkret: „Steh auf von der
Erde!” Der aufrechte Gang ist es, über den sich die
Bestimmung des Menschen erfülle, indem er unter anderem
das Freiwerden der Hände zum
handwerklich-technischen Gebrauch
ermögliche und dank der besonderen Neigung
und Formung des Kopfes eine entsprechende
Gehirnbildung sowie dank der Gestaltung des Kehlkopfes
die Sprache.3
Letztere ist für Herder das Hauptmittel
zur Bildung des Menschen, „die große Gesellerin”,
durch die er allein zur Vernunft komme. „Nur die Sprache
hat den Menschen menschlich gemacht, indem sie
die ungeheure Flut seiner Affekte in Dämme
einschloß und ihr durch Worte vernünftige
Denkmale setzte.” „Alle, die eine
gelernte Sprache gebrauchen, gehen wie in einem
Traum der Vernunft einher; sie denken in der Vernunft
andrer und sind nur nachahmend
weise”.4
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2 Nämlich
Platons Dialog Protagoras
(320d – 321e), wo wie
gelegentlich bei Herder die im Vergleich mit dem Tier
unzulängliche Ausstattung des Menschen
angesprochen wird. Die Titelfigur trägt hier den um
Sokrates Versammelten den Mythus vor, wie
Epimetheus sich von seinem Bruder Prometheus erbittet,
die von diesem erschaffenen Lebewesen mit Eigenschaften
auszustatten: „Wie
aber Epimetheus doch nicht ganz weise war, hatte er unvermerkt
schon alle Kräfte aufgewendet für die unvernünftigen
Tiere; übrig also war ihm noch unbegabt das Geschlecht der
Menschen, und er war ratlos, was er diesem tun sollte.
In dieser Ratlosigkeit nun kommt ihm Prometheus
die Verteilung zu beschauen, und sieht die übrigen Tiere zwar
in allen Stücken weislich bedacht, den Menschen aber nackt,
unbeschuht, unbedeckt, unbewaffnet, und schon war der
bestimmte Tag vorhanden, an welchem auch der Mensch
hervorgehn sollte aus der Erde an das Licht.
Gleichermaßen also der Verlegenheit unterliegend,
welcherlei Rettung er dem Menschen noch ausfände,
stiehlt Prometheus die kunstreiche Weisheit des Hephaistos
und der Athene, nebst dem Feuer – denn unmöglich
war, daß sie einem ohne Feuer hätte angehörig oder nützlich
sein können –, und so schenkt er sie dem Menschen.
Die zum Leben nötige Wissenschaft also erhielt der Mensch
auf diese Weise, die bürgerliche aber hatte er nicht. Denn diese war
beim Zeus ... ”. In:
Platon. Sämtliche
Werke, Bd. 1 (Hamburg
1965), S. 62.
Vgl.
auch Ovids Metamorphosen
(I 76-86), wonach Prometheus den Menschen nach dem Ebenbild der
Götter formte und ihn mit dem aufrechten Gang
auszeichnete.
3
Ideen,
a.a.O., S. 109f. und 116f.
4
a.a.O.,
S. 231-237