Home
Impressum
RUTH FLEIGS GALERIE
Schulkinder malen
Bilderbuch Rob. Rabe
Kritzel-Kratzel
HORST FLEIGS TEXTE:
I  Philosophica
A ZUR ANTHROPOLOGIE
Sloterdijk-Habermas
Pico della Mirandola
Michel de Montaigne
J. G. Herder
Max Scheler
Helmuth Plessner
Rück- und Ausblick
B ERINNERUNGSBILDUNG
Schock der Rückkehr
Erinnerungsautomatik
Wuchernde Phantasie
Seel. Raumpositionen
Sprache und Erinnern
Besuch als Korrektiv
Identitätsfragen
Steuernde Phantasie
Über das Vergessen
Biogr. Stimmigkeit
Proust. Doppelgänger
Psychobiologisches
II  Reiseberichte
III Zu Wim Wenders
IV Film und Kindheit
V Mitschüler/Schulen
VI Germanistisches

PSYCHOBIOLOGISCHE  HINTERGRÜNDE. GRENZEN  DES  ERINNERNS

-----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------


In der Regel jedoch ist es die bewußte, uns ohne weiteres zugängliche Erin­nerung, in der die Ge­schicht­lich­keit und personale In­te­gri­tät auch unserer Kör­pererfahrungen bewahrt bleibt. Unvergessen als Kör­per­ge­fühl so­gar ei­nige ele­mentare Kul­tur­tech­ni­ken des Kin­des: wie mit bestimmten Kleidungs­stücken um­zu­ge­hen war und wie sie „sit­zen” (mußten); das Anstecken ei­nes Haar­kläm­mer­chens; er­ste künstliche Bewegungsabläufe wie das Barfuß­fahren auf dem Drei­rad, das erfinderische rhythmische Mit­wip­pen auf dem Kin­der­sitz des Fahr­rads, das Hal­ten der Ba­lance beim Erlernen des Fahrrad­fahrens. Auch weiß ich noch, wie ei­ne er­ste ein­fa­che Re­fle­xi­on ei­ner Kör­per­bewegung entstieg, beim Gehen, als ich meine Arme überkreuz im Takt mit den Bei­nen schwin­gen ließ.

   Psychobiologisch Sinn machen dürften sogar die vielen banalen und gleich­gültig lassenden Ge­dächt­nis­in­hal­te, die­se eigentlich ir­re­le­vant gewordenen Orts­kenntnisse, all das Detailwissen um längst über­hol­te tech­ni­sche Ab­läu­fe so­wie Er­in­ne­run­gen an x-be­lie­bi­ge Leute. Denn sie versichern uns unserer Dauer bei stän­di­gem Wech­sel in Raum und Zeit, un­se­rer Be­harrlichkeit trotz der im­mer wie­der fäl­li­gen Los­lö­sung und Di­stan­zie­rung. Auch sie spie­len hin­über ins Gei­stige, dokumentieren gewissermaßen noch in den Um­ris­sen un­se­re Um­ge­bung und den Ra­di­us un­se­rer Aktivitäten und führen uns gar, ge­rade in ihrem ärgerlich ba­na­len Grund­cha­rak­ter, die ei­ge­nen Ab­hän­gig­kei­ten mitsamt unseren desinter­essierten und wenig in­spi­rier­ten Re­ak­ti­o­nen noch ein­mal vor Au­gen – ob nun als Sta­chel oder nur als Symp­tom der von uns ver­ta­nen Le­bens­mög­lich­kei­ten.


Es gibt da allerdings eine letzte Grenze des Erinnerns und all seiner Selbst-Er­weiterungen, eine unauflösbare und all­gemeine Iden­ti­täts­pro­ble­ma­tik: Ein jeder „besitzt” immer unendlich mehr Erfahrungen und Kenntnisse, als ihm je wie­der bewußt werden könn­ten. In der Be­geg­nung mit meinem wie verschüt­teten Ichphantom stand dies als Pro­vokation und Ahnung zu Beginn dieser Re­cher­che; und er­scheint in ver­wan­del­ter, selbst­be­wuß­ter Ge­stalt an ihrem Ende wieder, als Einverständnis damit, daß – nach ge­hö­ri­ger Er­in­ne­rungs­ar­beit frei­lich – der Groß­teil des­sen, was im Ge­dächtnis verwahrt ist, gleichwohl der willkürlichen Er­in­ne­rung un­zu­gäng­lich bleibt.

   Am drastischsten erfuhr ich es dort, wo etwas nur dank gewisser Hilfsmittel oder auch nur zufällig wieder her­auf­ge­ru­fen wur­de. Während ich mir in der frei­en Erinnerung an eines meiner Lieblingsmärchen, Andersens ‚See­jung­frau, kaum noch das dür­re Hand­lungs­ge­rip­pe be­wußt machen konnte oder von G. Sid­neys Film ‚Die drei Mu­ske­tie­renur noch zwei Sze­nen anzugeben wuß­te, war beim Wie­der­le­sen und -betrachten fest­zu­stel­len, daß ich nach Jahrzehnten noch mit Dutzenden von Teil­for­mu­lie­run­gen und vie­len Einzel­szenen ver­traut bin. Daß die­se Dis­kre­panz aber für so ziem­lich al­les Erlebte gilt, belegten vor al­lem die zu­fäl­lig er­hal­ten ge­blie­be­nen Ta­ge­buch­auf­zeichnungen des bald Zehnjähri­gen (von Ende Oktober 1954 bis Februar 1955). An kaum ei­-

 

- 59 -

ZurückWeiter
Top
http://www.fleig-fleig.de/