GESTALTEN DES VERGESSENS
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wir bei
Bewußtsein lieber die Augen davor verschließen,
unbewußt jedoch unserem Status quo schon um etliche
Schritte voraus sein dürften.
Umgekehrt
hat ja so manches an unseren bewußten oder vor dem Bewußtsein
ablaufenden Operationen irrationale
Qualität, läßt uns bei der Analyse von Daten und Problemen
plötzlich intuitiv weiter vorstoßen und zu Probeschlüssen
hinspringen, unterbreitet uns als
analogisches Denken ebenso verlockende wie mutwillige
Angebote, hat in Gestalt unserer Denk- und
Formulierungsgewohnheiten
unvermerkt Zwangscharakter angenommen oder zeigt bei
der Strukturierung und Systematisierung ebenfalls
eine tendenziöse kompositorische Gewalt, die
sich der unwillkürlichen Phantasie nähert oder auch nach Art eines
biologischen Systems zu funktionieren
scheint.
Wieviel bei der
Erinnerungsbildung mit Hilfe des VERGESSENS
zustande gekommen sein muß, läßt sich über eine Reihe
von Indizien erahnen. Sofern es nicht bloß
Ausdruck der Gleichgültigkeit oder einer tieferen geistigen
und lebensgeschichtlichen Schwächung ist,
unterliegt auch das Vergessen weithin jener
Gestaltungskraft des unwillkürlichen
Gedächtnisses. Freilich wird es seinerseits von
rivalisierenden Fähigkeiten
und Absichten wie denen beeinflußt, das Erfahrene
verläßlich zu registrieren,
zu objektivieren oder es den eigenen
Bedürfnissen und Vorstellungen anzupassen und
konstruktiv zu erweitern.
Zu
den hartnäckigsten Indizien für die Macht des Vergessens gehören
die von Zeit zu Zeit wiederkehrenden, aber nur vorüberhuschenden
Momente oder Szenerien, die partout nicht deutlicher zur Erinnerung
kommen wollen. Seit Jahrzehnten erscheint mir so
mitunter, für kaum einen Augenblick, ein
Gartenrestaurant mit Lampions, das mal bei einem
Onkel, mal auf den Anhöhen von Nizza zu liegen
scheint (womöglich eine Kontaminationsbildung
aus beiden Stätten). Und beinahe nur noch in der
Negativform, als Wissen um ihren
bedauerlichen Verlust, erfahre ich
gelegentlich wieder von den Eindrücken, die ich als 12jähriger
Pfadfinder von Frankreich und Belgien erhielt
(offenbar wurden sie überlagert durch viele spätere Aufenthalte
dort). Geläufiger sind die unvermuteten
Ausfälle, auf die man durch Dritte oder durch eigene frühere
Aufzeichnungen aufmerksam wird. Während der
Gespräche, die ich nach Jahrzehnten wieder
führte, wurde ich öfter von einem mir einst wichtigen
Erlebnis oder Faktum in Kenntnis gesetzt,
das mir längst entfallen war. Einiges war mir sogleich
oder doch nach kurzer Irritation wieder deutlich, etwa
meine Adjutantenrolle beim Besuch des
Bundesführers unserer Pfadfinderschaft
oder der verschlüsselte Name unseres
Pfadfinder-„Thingbaums” („Pd7A”). Für
anderes bekam ich erst im Laufe der Stunden oder
Wochen wieder ein verläßliches Gefühl, so für
meine mit einem Klassenkameraden
organisierte mutwillige Aussperrung eines
Begleitstudienrats in Berlin oder für einen
nächtlichen Besuch eines „Non-Stop-Kinos”
mit zwei anderen Mitschülern in Paris. Dieses allmähliche mentale Nachsickern von