PSYCHOBIOLOGISCHE HINTERGRÜNDE
-----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
gibt, ein
überindividuelles biologisches oder krudes
genetisches Gebot, das sich als solches entpuppt, wenn
es das Selbst als Individualität nach
getaner Lebensarbeit wieder fallen läßt? Meine kindliche
Unsterblichkeitsvision war eigentlich schon über diese
blanke Existenzerhaltung hinaus, war zwar auch eine
elementare Antwort auf meine verkappten
Suizidphantasien, versprach mir aber des
weiteren eine selbstbestimmte und nicht länger
stumme Existenz.
Wie
hier spielen biologisch-vitale
und geistige Bestimmungen regelmäßig
ineinander. Die Treue zu sich selbst, wie sie nicht zuletzt
in den unendlich vielen Erinnerungen zum Ausdruck kommt, folgt
so vermutlich selber einem allgemeineren
biologischen Programm, das sich eben auch
individuieren muß, um möglichst flexible Antworten
zu geben und parat zu halten. So daß das Kind in uns
jedem zu unserem eigentlichen,
geistigen Vater wird, indem gewisse
frühe Überlebenstechniken, die sich
bewährt hatten, in uns fortgeschrieben werden.
So wurde ich
während der Erinnerungsbeschreibung
meiner Jugend öfter auf Wiederanknüpfungen
an erfinderische Muster des Kindes
aufmerksam, an unbewußte
Phantasiebildungen ebenso wie an intuitive
oder vorsätzliche Manöver wie das
Bluffen, Schummeln und Sichdumm- oder
Sichtotstellen. Und glaube zudem bemerkt
zu haben, daß auch der Erwachsene öfter
jenen Mustern zu folgen neigt, das heißt auch ohne
eigentliche Not, impulsiv, einfach so,
als werde er hingerissen zu einer frühen
Problemlösung oder bloß Verhaltensweise,
erfreut, wieder im Bann seines kindlichen
Erfahrungshorizonts zu sein.
Die bloße Ahnung
um die eigene Kontinuität scheint ein hoher psychobiologischer
Wert zu sein, also nicht erst geistig als Ichbewußtsein,
sondern schon als Körperbewußtsein, das unsere vitale Integrität
repräsentiert und reguliert. Indizien hierfür
finden sich selten. Als ich während der Niederschrift
meiner Erinnerungen einmal zu meiner
Verwunderung bemerkte, soeben über meine Hand
hingestreichelt zu haben, fiel mir wieder
ein, daß ich etliche Jahre zuvor, mir ähnlich
unverständlich, gerührt die winzigen Narben an
meinen Fingern betrachtete; und ein
andermal bloß meine Zehen, die, sonst kaum je als
persönliche Merkmale wahrgenommen, für
mich immer noch ihren altvertrauten kindlichen Charakter
bewahrt hatten. Kaum zu verstehen diese
Ergriffenheit; eher schon, daß unsere kleinen
Narben als stumme Beweise der Kontinuität und Integrität
gelten dürfen. Größere Narben lassen
sich ja nüchtern oder sarkastisch erklären, die
vielen kleineren jedoch, insbesondere
an den Händen, können einen wohl tiefer berühren,
weil es Zeugen sind, die nichts mehr dokumentieren
müssen, bei deren Anblick es gleichgültig
geworden ist, ob sie sich bloß einer körperlichen
Ungeschicklichkeit oder dem eigenen
Übermut oder einem besseren Grund verdanken. Nicht
mehr erinnerungsfähig, als bewußtes
schmerzliches Erlebnis abgesunken,
bezeugen diese Narben nur noch die lebensgeschichtliche
Tiefe als Solidarität seelisch-geistiger
und körperlicher Erfahrungen.
- 58 -