ZU PROUSTS ,ICH IN MIR’
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ich
noch einmal annähernd so bestürzt und stellenweise
so entgeistert wie nach dem ersten Überlesen. Denn
nicht nur einen Text bringe ich hier auf sein Niveau, sondern
zugleich das erinnerte Leben. Ich schreibe, wie
mir erst in diesem Epilog aufgegangen ist, um mein
Leben, ohne jedoch zu wissen, was es im Grunde zu besagen hat. Immer
noch habe ich keine bündige Antwort und bleibe
um so gespannter, als ich mich nun einigen besonders
rätselhaften Aspekten des Erinnerns zuzuwenden
habe.
*
Was ist nur aus den
Erinnerungsbildern geworden, in denen ich einen Lebensraum wie
den im Rondell bei meiner Großmutter vor dem Einschlafen einst
so vergnüglich erkunden konnte? Bilder, die ja gleichberechtigt mit
dem Rückkehrschock von 1976 hinter all diesen
Aufzeichnungen stehen, weil sie gegenüber jener räumlichen
Rückkehr auf die Lust und Kompetenz der puren Erinnerung
setzten (vgl. S.
5f.)?
Je länger ich über meine Kindheit und Jugend
arbeitete, sie Tag für Tag aus mir hervorlockte und
beschrieb, desto weiter habe ich mich von solch
visionären Erkundungen eines
Lebensraumes entfernt; habe seit Jahren wirklich kein
Verlangen mehr, mich dieser Art der Erinnerung
hinzugeben, die in vielem unzulänglich war und zudem
regressive Züge hatte – und fühle
mich doch um sie gebracht, so, als hätte ich mit dieser Studie
eine Mission erfüllt, die im Letzten nicht die meine
war.
Auch verstehe ich
immer noch nicht recht, daß ich entgegen meiner erklärten
Absicht so weit über meine frühesten
Kindheitserinnerungen hinausgetragen
wurde. Wie angesichts der Notwendigkeit, alles nochmals zu
überarbeiten und zu interpretieren,
diesen Lebenstext wieder und wieder neu in die Welt zu
setzen, beschleicht mich abermals die Empfindung,
nicht so sehr der textredigierende Herr, als
vielmehr der textempfangende Bote und
Gefangene meiner Kindheit zu sein. Von einer
vergleichbaren Empfindung berichtete
ich schon auf den Anfangsseiten, als ich bei der
erwähnten Rückkehr in die längst verlassene
Wohngegend verstört fragte, ob es so etwas wie
ein älteres Ich oder auch Selbstgefühl in uns gibt, das geradezu
eifersüchtig auf unsere Hingabe
an die Gegenwart werden und uns dies auch dadurch zu spüren
geben könnte, daß es unsere frischesten
Eindrücke von den veränderten Stadtbildern bald
wieder zugunsten der antiquierten, von ihm einst gestalteten
Erinnerungsbilder auslöscht. Doch ist
nicht die Vorstellung von uns als autonomen
‚Ich’-Existenzen schon selber problematisch
genug, um sie noch zusätzlich dadurch zu belasten,
daß man in uns Ich-Gebilde ansetzt, die
unseren unterschiedlichen
Entwicklungsphasen zuzuordnen wären?
Wesenheiten, die gar, wie Proust es uns
nahezubringen sucht, in der unwillkürlichen
Erinnerung in uns wiedererstehen könnten