DOPPELGÄNGER ALS SELBSTERWEITERUNGEN
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innerung
kaum mehr vergegenwärtigen könnten.
Solch harmlose Verkennungen sollte man eher als Ausdruck unserer
Beharrlichkeit und Sehnsucht sowie unserer
Flexibilität und Toleranz schätzen lernen. Mitunter lassen sich im
nachhinein noch zusätzliche Kontextelemente
ausmachen, die sich bei der Wiederkehr dem altvertrauten
Lebensraum anlagerten und dadurch die Zeiten
verwirrend ineinander spiegelten. Als ich so nach
ungefähr einem Vierteljahrhundert in den
Gesichtszügen eines Mädchens die meiner
ehemaligen Tanzstundenpartnerin wiederfand, war
es nicht das bloße Aussehen, das mich so frappiert
haben mußte, sondern der Umstand, daß dieses
Mädchen zugleich in einer Tanzgruppe in
derselben Stadt auftrat. Jüngst bediente mich in einer
altbekannten Hotelwirtschaft
eine Frau meines Alters, deren seltsame Art, wie
stillvergnügt vor sich hin zu lächeln, sie mir zunehmend
als eine Freundin meiner Jugendfreundin
auszuweisen schien – bis ich im Gespräch erfuhr, daß die
Frau erst vor Jahren aus Ostdeutschland
herübergekommen war und ich sie bei einem
Besuch im Vorjahr schon flüchtig dort gesehen
haben mußte. Auch bei dieser Begegnung gab
der Kontext den Ausschlag, diese Gastwirtschaft,
wo wir „Pärchen” uns einst zum Eisessen und zu
unseren Spaziergängen trafen.
So können wir uns
bei der Rückkehr nie sicher sein, die einst verlassene Lebensstätte
mit unvoreingenommenem Blick zu
betrachten. Immer wieder scheint da jemand aus unserem
Erinnerungsfundus gespenstisch im Hintergrunde zu
harren und nur darauf zu warten, als weiterlebendes
Wesen hervortreten zu dürfen. Und sprechen wir dann
wirklich einmal einen einstigen Weggefährten,
stellen sich in der Regel gleich die Zweifel ein, ob und
inwiefern wir ihn noch als solchen vor uns haben.
Gelegentlich hatte ich gar den Eindruck,
einer Person, die ich nach Jahrzehnten nur für
Stunden wiedersah, näher geblieben zu sein, als sie sich selbst.
Eine ungeheuerliche Anmaßung,
zu der ich mich noch tiefer berechtigt fühlte, wenn ich über
den Betreffenden und unsere gemeinsame
Vergangenheit schrieb und ihn dadurch vollends in
meine Welt, Entwicklung und Wertschätzung
hineinzog. Das heißt ausgenommen dort, wo
jemand selber etwas Außergewöhnliches
entgegenzusetzen hatte, ein eigenes
literarisches oder künstlerisches
Werk, in das er, wie ich empfand, mitsamt den Erlebnissen
seiner Kindheit und Jugend lange schon ausgewandert
sein mußte. Hier scheute ich mich auch davor, den
ehemaligen Weggefährten zu
charakterisieren, wäre es doch kaum zu vermeiden
gewesen, das, was er seitdem an Substanz
gewonnen haben müßte, in seine Anfänge
hineinzulesen. Und habe jetzt doch wiederum meine
Zweifel, ob die ausgebreiteten geistigen und sozialen
Erfahrungen den anderen noch in der Tiefenschichtung
seiner Persönlichkeit zu verändern vermochten;
sage mir, daß wohl jemandes künstlerisches Werk an Substanz
gewinnen kann, schwerlich aber noch dessen
Urheber; daß neue Erfahrungen und Fertigkeiten
allenfalls ausgleichen können, was wir
nicht zuletzt durch unser Vergessen – aus
Indifferenz und Gewohnheit – fortlaufend
an Substanz verlieren.