ZU PROUSTS ,ICH IN MIR’. DOPPELGÄNGER ALS SELBSTERWEITERUNGEN
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verharrte
(nicht zu reden von einer Schar solcher Ich-Gestalten). Die
Empfindung, als stiege das Erlebnis und außerdem
das Ich in seiner damaligen Empfindungsweise wieder in
uns auf, deutet allerdings auf eine Ausgangsszene
zurück, in der man einer Sache oder Person so zugetan war,
sie so ganz zu der seinen machte und entsprechend von
ihr besessen wurde, daß hierbei in der Regel eine Symbiose
oder tiefere Lebenseinheit erreicht wurde,
vor allem wohl dank jener nichtbewußten Empfindungsanteile.
Eine Symbiose, die verständlicher machen
könnte, wieso Proust in seiner seltenen Begabung, das
Erinnerungspotential in diesen
zufällig sich einstellenden
Sinneseindrücken wahrzunehmen und sich ihnen entschlossen
hinzugeben, sich anscheinend im Zustand
einer veritablen Trance befand, nicht selten
stunden- oder nächtelang auf den Durchbruch der sich
anmeldenden Erinnerung harrend.[6]
Das Halluzinatorische daran war für mich nie ein
Einwand,sondern eine starke Ermutigung.
Ob man Proust methodisch oder vielmehr in seiner speziellen
Begabung folgen kann oder nicht, so dürfte doch
ein jeder, der sich dem Thema der Erinnerungsbildung
widmet, bald selber auf halluzinatorische
oder phantomhafte Erfahrungen stoßen. Und zwar
nicht allein in den genannten Auraphantasien,
die übrigens allesamt der willkürlichen
Erinnerung zugänglich waren, sondern auch im
anschaulichen Erleben dessen, was noch
vor Ort oder von Angesicht zu Angesicht an das einst Erlebte
erinnert. Eine hingebungsvolle
sinnliche Erfahrung, die zugleich hochreflexiv verläuft, sich
vor allem durch Vergleich und Vorstellungskraft
entfaltet und wegen dieser poetischen, die
Wirklichkeit transzendierenden Qualität uns so leicht
täuschen und irreale oder gespenstische
Züge gewinnen kann.
Hierzu gehören die
seltenen Momente bei der Rückkehr oder beim Wiedersehen,
in denen wir DOPPEL-
UND WIEDERGÄNGERN
der anderen wie auch unserer selbst begegnen. Obgleich sie meist
umgehend als Täuschungen zu erkennen waren,
haben sie mich doch wiederholt erschüttern können und mir
damit meinen – unseren – wohl verborgensten
und hartnäckigsten Glauben offenbart,
den an die persönliche Identität, die hier manchmal nur im
Sekundenbruchteil in Frage gestellt wurde.
Eine erste, relativ harmlose und
weitverbreitete Form war zu Beginn dieser
Studie vorzustellen, der Identifizierungszwang nämlich,
der einen bei der Rückkehr in ehemalige
Wohngebiete überrascht, indem man eine altbekannte
Person aus den Gesichtszügen von jemandem
herausliest, der sich bei näherem Hinsehen
jedoch als Fremder erweist. Ich kann dieser Versuchung
immer noch zum Opfer fallen, halte sie aber nicht
mehr für eine wunderliche Fehlleistung,
sondern für wohlbegründet. Denn in der
berechtigten Erwartung, daß sich jemandes
Aussehen nach Jahrzehnten stark verändert
haben müßte, werden wir auch von gröbsten Ähnlichkeiten
angezogen; und dies um so leichter, wenn die
Peron für uns damals eher eine Randfigur war, die wir uns daher in der freien Er-
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[6]
Vgl. dazu Proust in seiner Suche
a.a.O., Bd. 1, S. 93, Bd. 3, S. 89 oder etwa Bd. 4, S. 370; vgl.
ferner Ernst Robert Curtius, Marcel
Proust
(Frankfurt/M. 1973), S. 76ff.
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