BESUCH ALS KORREKTIV: WIEDERSEHEN UND -ERKENNEN NACH JAHRZEHNTEN
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Trotz
aller möglichen äußeren Veränderungen und der
unvorhersehbaren Lebenswege meinte ich die meisten Personen
in ihrer Wesensart wiedererkannt zu haben und stieß
nur selten einmal – immerhin! – auf einen Zug, den ich als
bewußte Weiterentwicklung, als
Steigerung oder auch als Ausdruck einer massiven
Selbstkorrektur hätte deuten können. Enttäuscht
war ich besonders darüber, daß kaum einer über die in unserem
Gespräch berührte Zeit, über sich selbst und seine
Erinnerungen im Sinne einer biographischen
Kontinuität oder auch Abweichung und Neuorientierung
Rechenschaft zu geben wußte; daß zwar nahezu jedermann
glaubte oder doch glauben zu machen suchte, sich unendlich
weit von seinen Anfängen fortentwickelt zu haben,
für mich jedoch eben derselbe geblieben war – und
zwar stumm und bewußtlos, beinahe wie eine
Marionette seiner Vergangenheit, mit der er
so gut wie nichts mehr meinte anfangen zu können.
Auch die Gedächtnisstärksten waren in der
Kenntnis und Respektierung der eigenen
Lebensgeschichte in der Regel weit zurückgeblieben,
anscheinend ohne Ahnung um Ausmaß und Wert ihrer
frühen Erfahrungen oder um das, was seitdem
von den eigenen Möglichkeiten alles hatte auf der Strecke
bleiben müssen. Dabei war jedermann
mittlerweile längst über das Alter hinaus, in
dem es noch um die Grundsicherung der bürgerlichen
Existenz gehen mochte.
Auf
der Rückfahrt von meinen Besuchen wurde mir wiederholt das Herz
schwer. Erneut hatte ich die Empfindung, als wäre bei
jemandem, den ich einst schätzte, ein zentraler
Lebensabschnitt seit langem schon abgestorben und als
hätte ich, der ja als einstiger Weggenosse
mit zu dieser verschwundenen Erinnerungssphäre
gehörte, für immer einen wichtigen Zugang zu mir
selbst verloren.
Allerdings hatte
ich ja meine Erinnerungen an Kindheit und Jugend soeben erst - wenn
auch nur in einer Rohfassung - ausführlich zu
Papier gebracht. War ich bloß erschöpft oder wie ausgeschrieben?
Und glaubte ich die Weggefährten eigentlich
erst jetzt verloren zu haben, nachdem ich sie in der
Erinnerungsbeschreibung unseres gemeinsamen
Milieus und in dem meist nachfolgenden Gespräch
besser einzuschätzen wußte? Oder gab mir eher meine oben
behauptete Vermutung den Rest, daß es für die
anderen wie für mich selber keine nennenswerte
innere Entwicklung gegeben hätte? So daß auch all das,
was ich da über Jahre hin in Erinnerung
gerufen hatte, bloß retrospektiv und
im Grunde fruchtlos bleiben müßte?
So begann ich
wiederum an diesen Zweifeln zu zweifeln. Mußte mein Eindruck
einer allgemeinen Selbstvergessenheit nicht schon
deshalb aufkommen, weil ich von Begegnung zu Begegnung einen
größeren Informationsvorsprung hatte?
Ich bemerkte ja, daß manch einer darüber beunruhigt war
und dies in seiner Verlegenheit mitunter
zu kompensieren suchte, indem er plötzlich nach irgendwelchen
Dokumenten und Photos zu kramen begann.
Vor allem aber eins: Welche Rolle spielte beim Wiedersehen meine
Freude, beim anderen dies und das
wiederzuentdecken, kleine Merkmale, die mich
gerade deshalb, weil ich sie schon halb ver-
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