gessen
hatte, besonders tief berührten – ohne daß sie jedoch
darum schon zu jemandes „Wesenskern” gehören
müßten? So daß meine Folgerung, der andere hätte
sich im Grunde gar nicht verändert, so nicht zu halten wäre?
Ich
ging daher meine Aufzeichnungen, die ich mir oft in den ersten
Stunden nach einem Besuch gemacht hatte, in dieser
Hinsicht genauer durch:
Die wichtigsten
Elemente bei der Wiedererkennung waren Stimme, Körperhaltung
und emotionale Reaktion des anderen, weniger geistige
Merkmale wie Argumentations- und Ausdrucksweise, auf die ich
erst in später Jugend genauer achtzugeben
verstand. Was den allerersten Anblick der Person betrifft, so
gab es niemanden, den ich nicht auf Anhieb oder nach Sekunden
wiedererkannt hätte; selbst dann nicht, wenn ich
vorher die Physiognomie nicht mehr aus der
Erinnerung heraus zu beschreiben wußte. In diesem
Fall waren bei mir offenbar sogleich
intuitive oder unbewußte Mechanismen der
Identifizierung am Werk. Und sicherlich auch immer
dann, wenn ich jemandes Ausstrahlung zu erfassen
suchte, das, was mich an der Person einst faszinierte
und sie nicht hatte vergessen lassen. Merkmale,
die sich bei dem anderen nun ihrerseits weithin unwillkürlich
oder unbewußt herausgebildet haben
dürften, so daß sie nicht so leicht zu überspielen sind
und meist noch nach Jahrzehnten kenntlich bleiben. Und
doch – selbst wenn sich die gewisse persönliche Ausstrahlung auf
diese Weise durchhalten konnte, bleibt da immer noch jene
Kardinalfrage, ob ich mich nicht als Kind und
Jugendlicher allzu leicht durch Auffälligkeiten
beeindrucken ließ, die gleichwohl unwesentlich
waren. So daß meine Wiedererkennungsfreude
oder auch Enttäuschung nicht unbedingt etwas darüber
besagte, ob und inwiefern der Betreffende
sich nun wirklich verändert hatte oder nicht. Und hat nicht ein
jeder zu einem bestimmten Zeitpunkt auch
unentfaltete Eigenschaften, die zu
seinem Wesen gehören und die man als entfaltete dann
als wesensfremd verkennen müßte?
Dessen eingedenk,
stelle ich im Folgenden kursorisch eine Reihe von weithin
anonymisierten Personen vor, vermerke die ungefähre
Zeitentiefe unserer Wiederbegegnung und behalte auch im
Auge, ob das, was ich über den anderen und über mich
erfuhr, wirklich so wenig Einfluß auf meine
Erinnerungsbildung und auf mein Selbstverständnis
hatte.