ZUR KONTROVERSE ZWISCHEN SLOTERDIJK UND HABERMAS
--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Mit diesen auf
Plato und Heidegger anspielenden Formulierungen, durch die sich so
mancher skandalisiert fühlen mochte, schloß
Sloterdijk freilich nicht, sondern kam auf seinen
humanistischen Ausgangsgedanken
mit der Bemerkung zurück, daß die maßgeblichen
Bücher der Vergangenheit weithin in den Archiven der
Menschheit versunken seien und daß wohl
„Archivare und Archivisten die
Nachfolge der Humanisten angetreten haben. Für die
Wenigen, die sich noch in den Archiven umsehen,
drängt sich die Ansicht auf, unser Leben sei die
verworrene Antwort auf Fragen, von denen wir vergessen
haben, wo sie gestellt wurden.”17
An eine solche Archivrecherche werde ich
mich in den nächsten Kapiteln machen.
Mehrmals rekurriert
Sloterdijk auf den Menschen als das Gattungswesen, das
in seiner fundamentalen Bedürftigkeit – er
zitiert das angeblich von Herder
stammende Schlagwort „Mängelwesen” – auf die
Optimierung seiner kulturellen Institutionen
angewiesen sei und nun davor stehe, sich für oder
gegen eine so nie gekannte (genetische)
Selbsttransformation zu entscheiden.
Diesen Begriff der menschlichen ‚Gattung’ stellt Jürgen
Habermas, der die Tendenz in Sloterdijks
Elmauer Vortrag als „genuin faschistisch”
bezeichnet hatte, in seiner zwei Jahre später
veröffentlichten Schrift Die
Zukunft der menschlichen Natur
(2001) in den Mittelpunkt seiner
Überlegungen und bestimmt sie neu. Denn diese bei
Sloterdijk vor allem die Entwicklungsoffenheit
des Menschen bezeichnende
anthropologische Kategorie
hat für Habermas primär normativen, verpflichtenden
Rang, da sie das
interkulturelle Selbstverständnis des
Menschen ausmache.18
Er spricht geradezu von einer
„Gattungsethik”,
die den Menschen dazu verpflichte, „jene
Wir-Perspektive einzunehmen, aus
der wir uns gegenseitig als Mitglieder einer
inklusiven
Gemeinschaft ansehen, die keine
Person ausschließt.”19
Am verbindlichsten
für alle nur denkbaren Konflikte habe Kant diese
Wir-Perspektive in seinem Kategorischen
Imperativ formuliert, dem zufolge eine
Person niemals als Mittel gebraucht werden dürfte. Zu
einem Mittel aber für die Interessen und
Vorlieben anderer würde man nach Habermas
den betroffenen Menschen durch ein
vorgeburtliches genetisches
Design machen. Der so Manipulierte hätte nie mehr die
Chance, die Entscheidung des Dritten (in der Regel
seiner Eltern) ergebnisoffen zu diskutierenund zu
revidieren. Anders als bei dem schon von Sloterdijk
erwähn-
-------------------------------------------------------------------------------
17 a.a.O.,
S. 56
18
Habermas spricht von „intuitiven Selbstbeschreibungen, unter denen
wir uns als
Menschen
identifizieren und von anderen Lebewesen
unterscheiden – also das Selbstverständnis von
uns als Gattungswesen. Es geht nicht um die Kultur,
die überall anders ist, sondern um das Bild, das sich
verschiedene Kulturen von ,dem’ Menschen machen – der
überall – in anthropologischer
Allgemeinheit – derselbe ist.” A.a.O.
(Fußnote Nr. 7), S. 72.
19
a.a.O., S. 98
- 6 -