SELBSTERFORSCHUNG
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Vieles
ist in diesen Aufzeichnungen, die ich als psycholiterarischen
„Selbstversuch”
[2] verstand, für mich zum erstenmal überhaupt zur
Sprache gekommen. Damals, als das Kind es erlebte,
mochte es nicht oder nur lakonisch darüber sprechen
und wußte sich kaum einmal jemandem anzuvertrauen. Hätte es
damals davon erzählen können, wäre alles
dadurch in ein bestimmtes Licht gerückt, von den Reaktionen
der anderen berührt und bald schon in meiner Erinnerung
mit deren Stellungnahmen verbunden, angereichert und umgewandelt
worden. Heißt dies nicht umgekehrt, daß all das, was
erst jetzt zu Wort kam, so armselig und relativ zurückgeblieben
es angesichts der vertanen Gespräche oft auch sein mag, sich
noch unverfälscht in mir halten konnte? Selbst wenn dies, wie
ich meine, auf eine Reihe von Erlebnissen zutrifft, so
wurden sie doch schon während der Erinnerungsbeschreibung
seelisch neu integriert, indem sie sich sogleich meinen
späteren, seitdem gemachten Lebenserfahrungen zu
stellen hatten. So sehr ich auch durch Perspektive und Vokabular des
Kindes das Bescheidwissen des Erwachsenen
zu unterlaufen und nach Möglichkeit nichts hineinzulesen suchte in
diese Bruchstücke und Episoden, die ja allererst
behutsam aufzulesen und zu sichern waren, so unvermeidlich
mußte ich doch alles zugleich in einem nie
dagewesenen Zusammenhang betrachten: Je besser ich
mich wieder hineinfinden konnte in eine
bestimmte Lebenssituation, desto mehr schärfte sich der begleitende
interpretierende Blick des Erwachsenen,
der sich immer genauer orientieren konnte, dies und das zu
durchschauen begann und bald auch die eine oder andere
Verhaltenskonsequenz zu registrieren hatte. Und
wie sich das weitere Wissen des Erwachsenen
um die erinnerten Szenen und das kindliche Selbstbewußtsein
lagerte, so schlugen auch die Erkenntnisaffekte
des Erwachsenen, vor allem Bestürzung und Entzücken über das
Entdeckte, durchweg schon in den Moment der
erinnernden Rekonstruktion ein – noch bevor es in typographisch
abgesetzter Schrift kommentiert und näher
untersucht werden konnte. Anders als in der poetisch überhöhten
Erinnerungstechnik Prousts waren mir
außerdem Wiedererstehungserlebnisse des damaligen Ich
nicht vergönnt (oder doch nur mit merklich
halluzinatorischem Einschlag). Immerhin wurden die vielen
unterschiedlichen Lebensmomente,
mochten sie mir noch so ursprünglich oder wie festgewachsen auf
ihrer jeweiligen Alters- und Bewußtseinsstufe
vorkommen, durch meine schriftliche Erinnerung zum erstenmal
systematisch zueinander geführt,
wurden gemeinsam, wenn auch sukzessive, ins Bewußtsein des
Erwachsenen gehoben.
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[2] Odyssee in die Kindheit, a.a.O. (siehe Fußnote S. 19), S. 41