ZWEITER LEBENSRAUM: VON PHANTASIEBILDERN ÜBERWUCHERT
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Es wäre dies
nichts weniger als eine von mir wiedereroberte Erinnerung, eine, die
so ganz anders als etwa bei Marcel Proust durch bewußte
Akte wie Nachfrage und szenische Rekonstruktion vorbereitet wurde. –
Auf einemPhoto sehe ich übrigens, daß mein Onkel
sein eigenes Söhnchen tatsächlich links von sich gehen ließ. Und
meine mir nun auch über eine kleine Kuriosität meines eigenen
Ganges im klaren zu sein: eine fast unmerkliche Schnepperbewegung
des rechten, nach vorn geworfenen Fußes, eine winzige
Verzögerung der flüssigen Bewegung, die rhythmisch ein Hinken
andeutet.
Während
der visuelle Erinnerungsschematismus für meine frühe Rondell-Zeit
die damaligen Erlebnisse und die dazugestoßenen
Assoziationen tolerant und ausgewogen nebeneinander auftreten läßt,
hat er für meine Rheinwiesen-Zeit derart einseitig die
Lektüreassoziationen begünstigt, daß dadurch alle Spielszenen
bis auf weiteres verdrängt oder überwuchert wurden. Zu
erklären sein dürfte dies zum einen durch die mir neue machtvolle
Erfahrung des Lesenkönnens, bei der die Phantasie sich nicht allein
auf die imaginäre Sphäre der Märchen und Romane
beschränkte, sondern zudem auf die Wirklichkeit übergriff und sie
partiell erobern konnte. Und zum anderen dadurch, daß
meine kindlichen Aktivitäten in den Wiesen zu gleichförmig
verteilt waren, um an festumrissenen Plätzen erinnerlich
zu werden. So weiß ich vage, wenn ich aus jenem Schematismus
hinaustrete, daß wir Kinder an dem hier und da wachsenden
Sauerampfer zu naschen liebten, Sträußchen von
(Schlüssel-)Blumen pflückten und auch den einen oder anderen Pilz
vorsichtig nach Hause trugen, Beute, die an wechselnden
Plätzen zu machen war und in ihrem Überall-und-Nirgends dann leicht
der szenischen Erinnerung entgleiten konnte.
So
ist denn das reine, vom Schauplatz und seinen Objekten unabhängige Sicherinnern
bei dieser Spielwiese an seine Grenzen gekommen. Vorfindbar geblieben ist kaum
mehr als das viertelkreisförmige Orientierungsschema, das zwar mit dem
Gefühl einer Urvertrautheit besetzt ist, doch keine eigentlichen Lebensspuren
mehr enthält. Erneut stellt sich mir deshalb die – proustfremde – Frage, ob
nicht die Rückkehr an den Schauplatz wieder einiges von dem Vergessenen zu
erwecken vermag. Was tut sich dabei? Schon 1976, gleich im Anschluß an die Doppelgänger-Erfahrung
am Klingelschild, war ich auch weiter bis hin zu den Rheinwiesen gefahren und
hatte mir anschließend einige Notizen gemacht (hier und da in kryptischer Verknappung,
weshalb ich sie jetzt leicht überarbeitet zitiere):
„Meine alte
Vorstellung, ich müßte mich beim Herannahen an einen solch
frühkindlichen Lebensraum eigentlich klein machen wie ein Kind
und auf den Knien fortbewegen, spielt jetzt, bei der Künstlichkeit
der Anfahrt im Auto, keine Rolle mehr. Im Nu bin ich bei den
Rheinwiesen, stelle das Auto ab und suche nach unserem Haus, bis
sich herausstellt, daß ich genau davor angehalten habe!
Das Wiesenpanorama vom Haus her weiß ich noch auswendig.
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