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ZWEITER LEBENSRAUM: VON PHANTASIEBILDERN ÜBERWUCHERT -------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Am
Kuhzaun mache ich sogleich wieder mit dem leichten
elektrischen Schlag Bekanntschaft, zum erstenmal seit etwa
25 Jahren. In der Weide immer noch der riesige Kletternagel;
dann die so nie wieder gesehenen, über das Gelände hin
verstreuten Kuhfladen, auch die merkwürdig kräftigen Disteln.
Auf einmal, wie aus Andersens Märchen ,Der Tannenbaum’
auftauchend, ein Häschen im Streckgalopp! Ich gehe an einer Kuhherde
vorbei, die mir dann – auf der anderen Seite des Zaunes – erregt
folgt. Bei den Märchenbäumen <...> Diese morschen Weiden
knarren oder ächzen im Wind, daß mir angesichts der
großen abgebrochenen Äste, die dort umherliegen, fröhlich
beklommen wird! Zu den geheimnisvollen Schächten und
zurück zur Straße.”
Bei
dieser Rückkehr brachten sich wirklich einige Lebensmomente und
Umstände, die mir entfallen oder nicht mehr geläufig
waren, wieder zur Erinnerung, der Schlag vom Elektrozaun, unser
Kletternagel, die Kuhfladen, Disteln und die davonjagenden
Hasen. Es waren dies aber keine Erinnerungen an einzelne
Erlebnisse, sondern „nur” Wiedererkennungen oder
Reminiszenzen an serielle Erfahrungen und Requisiten. Außerdem
haben diese Funde von 1976 ja immer noch keine Spuren in meinem
visuellen Erinnerungsschematismus hinterlassen; nur ihre
damalige schriftliche Fixierung dürfte sie davor
bewahrt haben, wie jene anfänglich erwähnten Veränderungen
im Straßen- und Industriebild der benachbarten Großstadt,
allmählich zu verblassen oder von einem älteren
Gedächtnissystem längst schon eliminiert worden zu sein.
Immerhin, wenn auch nur als serielle Daten oder
Stellvertreter älterer Szenen, sind sie erst einmal mitsamt
ihrem Erinnerungspotential gesichert und könnten unter
Umständen wieder szenisch detaillierter vor Augen treten (und
tatsächlich konnte ich später authentischere
sinnliche Reminiszenzen an Details wie Disteln, Kuhfladen und an
den Schlägen eines Elektrozauns heraufrufen).
Im
nachhinein muß ich mich nun doch sehr darüber wundern, wie
getreulich ich auf meinem Wiesenrundgang von 1976 jenem
viertelkreisförmig verlaufenden visuellen
Erinnerungsschema folgte, das mir damals als solches noch gar
nicht bewußt war! Selber begründet wurde dieses rigorose Schema
zweifellos durch die Topographie der Rheinwiesen, die
für uns Kinder die Bewegungsmöglichkeiten weithin
festlegte: Auf der ganzen linken Seite, in die Raumtiefe
der Wiesen hinein – an der Vertikalen dieses Viertelkreises –,
lag das Obstbaumgebiet eines Großbauern,
markiert durch den für uns nur schwer übersteigbaren, von
Kopfweiden gesäumten Zaun, der diese Zone von „unseren”
rechts daliegenden Spielwiesen und den Viehweiden
abtrennte. So stark muß dieses Grenzgefühl gewesen
sein, daß mein visuelles Raumschema sich die Baumreihe mit
ihrer Abzäunung wie selbstverständlich zum linken
Flügel genommen und keinen weiteren
szenischen Blick zum jenseitigen
Obstbaumgebiet hin erlaubt hat. Was sicherlich noch dadurch verstärkt
wurde, daß sich mir von unserem Wohnzimmerfenster
aus nahezu derselbe Bildausschnitt darbot. Um mich davon zu
lösen, müßte ich schon aus dem schematischen Ablauf
hinaustreten und mir den bildbeherrschenden
Kletterbaum vorne links
- 10 - Weiter
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