ERSTER LEBENSRAUM: ERINNERUNGSAUTOMATISMUS ENTLANG DEN ERLEBNISSZENEN
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aus
und ein ging, als wir Flüchtlinge im Nebenhaus ein Zimmer
bewohnten. Und auch später, vor allem als 10-12jähriger,
kehrte ich dorthin mit dem Fahrrad immer wieder zum Spielen
zurück. Die unmittelbare Umgebung des Hauses ist darum
besonders dicht mit Erinnerungsbildern
belegt. Je weiter ich mich von diesem Zentrum entferne, desto
größer werden die Zwischenräume ohne
eigentliche Erinnerung (dort hielt ich mich ja auch
seltener auf) und desto öfter treten Auffälligkeiten
in Straßenführung oder Häuserbau an die
Stelle eigener Erlebnisszenen. Zudem drängt sich mit
zunehmender Entfernung und Erlebnisleere
leicht etwas sehr viel später Gesehenes und Erlebtes in den
Zeitraum „Kindheit” ein. Daß dieser aber im
Zentrum beinahe ohne störende Einmischung
anderer Lebenszeiten zur Erinnerung kommen kann,
dürfte im wesentlichen dem erwähnten visuellen
Automatismus zu verdanken sein:
Versetzt man sich in eine bestimmte Erinnerungszeit, sei es
„Kindheit”, „späte Jugend” oder „Gegenwart”,
hält sich die einmal in Gang gesetzte Raumerkundung trotz
der ihr möglichen „Schwenks” ziemlich
verläßlich in der gewählten Zeitdimension
durch. Trotz kleinerer räumlich-szenischer Sprünge tastet
sie sich streckenweise und mit „eigenem”,
immer mit erscheinendem Horizont vor, läßt
sich deshalb auf bauliche und andere
Veränderungen kaum einmal ein und blockiert
dadurch die dazugehörigen
Erinnerungsszenen jener anderen
Zeiträume.
Wie
zu sehen war, mischen sich aber gerne Phantasievorstellungen in die
Erlebnisszenen ein, oft Leseeindrücke, die
sich auf assoziativem Wege mit bestimmten
Szenen verknüpft haben. Warum und zu welchem Zeitpunkt diese
Verknüpfung stattfand und seit wann sie zum
Erinnerungsrepertoire gehört, ist nur noch selten
herauszubekommen. Von dem Sterntaler-Mädchen
betrachtete ich einst wirklich an dieser Stelle eine
farbige (blau-goldene?) Abbildung, die
einer Haferflocken-Packung
(„Köllnflocken”?) beigelegt war. Für mich
bedeutsam und erinnerbar aber wurde diese
Szene zweifellos nur in Assoziation mit Gittis
traurigem Schicksal (sie starb im März 1952, gerade
acht Jahre alt); eine Assoziation,
mit der sich später noch Andersens Mädchen mit den
Streichhölzern als sachliche und
genreverwandte Assoziation
verband (das Märchen las ich um 1953/54).
Und
noch eine weitere, sehr viel später gebildete Assoziation hat sich
neuerdings hinzugesellt: Wie ich 1990 von Gittis Stiefvater,
meinem kriegsversehrten Onkel, erfuhr, lernte ich in diesem
Rondell laufen oder vielmehr spazierengehen, indem ich mich
an einer seiner Krücken festhielt. Diese Information hat sich
inzwischen als vages Raumgefühl – ohne
eigentliches Erinnerungsbild –
an der Stelle niedergeschlagen, wo schon Eiswagen,
Kinderwagen und die Hinkelkästchen (Hinkeln
auf einem Bein!) angesiedelt sind. Eine
Stelle, die eine wunderliche Anziehungskraft
gewonnen hat.
Solch wesentlich
später herangeholte oder herbeigeflogene Assoziationen können
sich durch andere verstärken und allmählich so
dominant werden, daß die ursprünglichen Erlebnisse
daneben verblassen und als Erinnerungsszenen
schließlich verschwinden. Dies scheint der zweiten
liebvertrauten Spielumgebung meiner frühen Kindheit in dem kaum
drei Kilometer entfernten Nieder-
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