IDENTITÄTSFRAGEN. - PERSÖNLICHE IDENTITÄT UND KOLLEKTIVE DIMENSION DER ERINNERUNG
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gymnasium
durchkäme, ja besonders begabt sein müsse, verbittert
mich auch dies, weil ich es mir nicht aus dem Kopf schlagen
kann, wie tröstlich diese Bemerkung damals für
mich, den über Jahre hin an sich beinahe verzweifelnden
Unterstufenschüler gewesen wäre.
Wie fehl ich in meiner Selbsteinschätzung oft ging, erkenne ich
außerdem an den vielen, meine Erinnerungen
überarbeitenden oder sie komprimierenden
Phantasiebildern (dazu nachher); war ich doch damals,
als ich sie in mir entwickelte, ernstlich überzeugt, nicht
nennenswert viel Phantasie aufbringen zu können.
Es lag wohl an meiner hochentwickelten emotionalen
Erstarrung und Reflexivität, daß ich
über meine impulsiven, imaginativen und auch „poetischen”
Ausdrucksmöglichkeiten so geflissentlich
hinwegsehen konnte und mir in dieser Hinsicht kaum
noch etwas zutraute.
Genug
davon. Ohnehin war der Ausgangspunkt meiner Erinnerungssuche nicht
bloß die Ahnung dessen, was ich persönlich alles verloren und
vergeudet haben muß, vielmehr eine Ahnung um die Universalität
solcher Verluste. Als Vergessen-,
Abgeschnitten- oder Verdrängtwerden zeigte sich mir
dies zuerst an denn Spielkameraden, die nach
einem Umzug zurückbleiben mußten, und danach an
einigen Mitschülern, die zu Unrecht „ausgemustert”
wurden. Inzwischen habe ich die Selbstvergessenheit
auch als verbreitete und wie selbstverständliche
Lebensform der Erwachsenen kennenlernen müssen.
Ohne die
selbstbewußte Herübernahme unserer Vergangenheit in die Gegenwart
verliert unsere ohnehin prekäre Identität immer
mehr an Substanz. Mindestens ebenso zu schärfen wie der Sinn
für das Wünschenswerte und zu Projektierende
wäre mithin das Gespür für das, was unbemerkt verlorenging
und was weiterhin verlorenzugehen
droht, für das unnötig sich Verschlimmernde und vielleicht
noch zu Verhindernde. Die nicht selten schmerzlichen
Einsichten, die an den oft wie verblaßten oder entseelten
Erinnerungsbildern zu gewinnen
waren, lassen sich in die Gegenwart allerdings nur
übertragen, indem man diese mitsamt ihren Repräsentanten
auch kräftig zu relativieren und sich ihr
zu widersetzen weiß, sofern sie als Ergebnis und Profiteur
unserer so oft verunglückten Vorgeschichte zu
betrachten ist. Eine besondere lebensgeschichtliche Verantwortung,
die in den allgemeinen ethischen Erörterungen kaum einmal
berücksichtigt ist. Und erst recht nicht der große
Erkenntnisaffekt, der noch in der langen
Erinnerungsbildung selbst herangewachsen ist:
UNVERSÖHNLICHKEIT. Als tiefsitzende
anhaltende Empörung hat sie nicht vergessen und nicht
resignieren lassen und ein Gespür dafür entwickelt,
wo sich noch Vertreter dieser Verhältnisse, die einen beinahe
für immer zum Schweigen brachten, gehalten haben, in
welcher neuen Gestalt auch immer. Für einige besonders penetrante
Quälgeister merkte ich es schon an: Ich mag noch so
viele nachträgliche Informationen über sie erhalten
haben, mag wissen, daß mein Grundschulrektor,
mein Vater, mein Pfadfinderführer oder ein bestimmter
Gymnasialpauker einst selber Verfolgte
waren oder Opfer blieben, es ändert nichts
daran, daß mit ihnen und anderen Leuten und
Institutionen keine Versöhnung möglich ist und ihr
Treiben ohne Beschönigung zur Sprache kommen
sollte. Dergleichen „mit dem Mantel der Nächstenliebe” zuzude-