BESUCH ALS KORREKTIV: WIEDERSEHEN UND -ERKENNEN NACH JAHRZEHNTEN
-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
an bestimmte
Ereignisse in unserer Klasse und an meine Mitschüler nur noch vage
erinnern, hatte er es doch, wie er dann selbst erklärte,
seitdem mit hunderten anderer Schüler zu tun gehabt. Aus meiner
Klasse habe ihn seit dem Abitur nur noch einer wieder
besucht, ungefähr zwei Jahre vor mir.
Wir
sprachen von gleich zu gleich. Und doch durchschwebte unser Gespräch
der Geist unseres alten Lehrer-Schüler-Verhältnisses
– bei mir als Respekt, den ich nicht abschütteln mochte, weil er
den eigenen rebellischen Sinn und ebenso den
Großmut des anderen, ohne den er sich nicht hätte
entfalten können, in Erinnerung behielt.
*
Nach ungefähr 40
Jahren meldete sich auf mein Schreiben hin Wolfgang, einer
meiner frühesten Spielkameraden, auf dem
Anrufbeantworter. Die Stimme erkannte
ich nicht wieder und hörte nur eine „trockene Diktion
aus dem Ruhrgebiet” heraus. Beim Besuch bemerkte
ich nicht einmal, daß sein mich irritierender
Augenfehler andeutungsweise schon bei dem Kind zu
sehen war, so jedenfalls auf einem mir
nachgereichten Photo. Dabei hatte ich noch vor
dem Besuch notiert, daß er „die hellen, ein wenig
wässerigen blauen Augen (nur auf einem
Auge?) öfter zuzukneifen” schien. War dies meine ungenaue
Reminiszenz an seinen Augenfehler? Oder
hatte er ihn als Kind auf eben diese Weise kaschieren können?
Während des
Gesprächs erwähnte er sein gutes Langzeitgedächtnis und konnte
wirklich, trotz mancher auch von ihm vergessenen
Episoden und Personen, erstaunlich viele Einzelheiten
wieder aufrufen, die nun, in ihrer Fülle, meine eigenen
Kindheitserinnerungen wie umgeistern,
ja, in sie einzudringen scheinen. Denn bei der Erinnerung
an Personen und Objekte – weniger an Erlebnisse
– möchte ich spontan immer auch meine jüngsten Notizen
daraufhin durchsehen, ob und was er, der lange dort
einheimisch Gebliebene, wohl dazu zu
bemerken wußte. Und indem er durch dieses Wissen um
Szenerien, Spiele oder Personen, die für mich schon wie
verwunschen waren, fern und unberührbar durch andere,
nun das vermeintlich Höchstpersönliche meiner
Erinnerungen aus seiner Perspektive
bestätigte oder mit Details anreicherte, erlöste er mich insofern
aus meiner Empfindung einer
lebensgeschichtlichen Isolation und
ließ mich wieder an so etwas wie Zeitgenossenschaft
glauben, zumindest an eine in der Vergangenheit.
*
Nach 38 Jahren
verabredete ich mich am Telefon mit jemandem, den ich als einen
besonders rabiaten Burschen in Erinnerung hatte. Er sprach
„kurz angebunden” und schien trotz seiner Zusage so
desinteressiert zu sein, daß ich mich auf das Schlimmste
- 27 -