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MACHTKÄMPFE  INNERHALB  UNSERER  GEDÄCHTNISBILDUNG?

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sol­len. Da­zu ge­hört die von flüchtigen, gleich­sam touristischen Besuchern der eigenen Le­bens­stät­ten meist selbst­zu­frie­den bekundete, aber auch dem schon erfahrenen „Rückkehrer” immer wieder überra­schen­de un­so­li­da­ri­sche Erleichterung, bestimmten Verhältnissen ein für alle­mal entkommen zu sein. Au­ßer­dem gibt es vie­le Nu­an­cen zwischen Herab­las­sung, Trauer und Verklärung, die emotional eine un­über­wind­li­che Distanz sig­na­li­sie­ren, ein Nichtmehrberührtwerdenkönnen, das wirksamer als jedes Tabu ist. Bei gut do­ku­men­tier­ten Le­bens­zeug­nis­sen muß man freilich zu drastischeren Mitteln greifen. Starke Be­frie­di­gung mag einem so das Ver­nich­ten alter, unwie­derbringlicher Photos bereiten: 1975 zerriß ich viele Pho­tos aus der Zeit mei­ner Kind­heit und Ju­gend und fühlte mich gut dabei, bestritt ich doch dadurch die von be­stimm­ten Erwachsenen durch ih­re pe­ne­tran­te dirigistische Anwe­senheit auf den Photos behauptete Gewalt über mei­ne er­sten Le­bens­ab­schnit­te.


An die Befriedigung, die sich beim Vernichten dieser manipulierten Photos einstellte, wurde ich im Folgejahr wie­der erinnert, nämlich am Tag nach jener er­sten Rückkehr in meine Herkunft. Erschien am Ankunftsabend in die­sem Spät­som­mer 1976 vieles verschattet, verhuscht und ahnungsreich, da die altgewohn­ten Blickbahnen beim Her­an­fah­ren mit dem Auto durch wucherndes Gebüsch weithin verdeckt blieben, so lag nun am Tage al­les ent­zau­bert da und traten im Laufe der nächsten Stunden, beim Durchstreifen jener Lebensräume, Un­men­gen nich­tiger Einzelheiten ins Auge, denen ich in der Jugend offenkundig niemals Beachtung geschenkt hat­te: Un­wil­len und Nie­dergeschlagenheit mischten sich zu der wohltuenden Empfindung, in dieser Umgebung nichts mehr ver­lo­ren zu haben.


Trotz dieser Befriedigung kam ich noch oft zurück und überzog mein Ter­rain, diesen Lebensraum vom Nie­der­rhein bis zu der angrenzenden Ruhrgebiets­stadt, in dem ich – bei drei Umzügen ­– vom 2. bis zum 20. Le­bens­jahr herange­wachsen war, kreuz und quer mit Nachforschungen zu Schauplätzen und Per­so­nen. Jene letz­te Emp­fin­dung, allem dort für immer entfremdet zu sein, dürfte darum nur eine Schock- oder Schutz­re­ak­tion ge­we­sen sein, eine Art Totstellre­flex auf die wie vampirische Bedrohung, die noch von dem Klingelschild aus­ging, hin­ter dem sich mein jugendlicher Wiedergänger zu verbergen schien. Eine Reaktion, die wie das Zer­rei­ßen der Photos im Vorjahr ein Akt der Ver­leugnung war und gleichzeitig gutgeheißen wurde von einem kon­kur­rie­ren­den tieferen Wahr­heitsgefühl. Wie ich jene gestellten Photos als irrelevant und pseudo-objek­tiv ver­warf, so jetzt die Relikte meiner alten Wohnumgebung; und hier wie dort ließ sich die Vernichtung als Stei­ge­rung oder Errettung biographischer Integrität genießen. Welch heikle Kollision der Selbstempfindungen mit dem un­schätz­ba­ren, oft wirklich unab­sehbaren Wert des Dokumentarischen, seien es Photos oder Le­bens­räu­me! Und doch wird man sich von Zeit zu Zeit ähnlich entscheiden müssen. Immer dort, wo die ma­te­ri­el­len Re­likte un­sere Erinnerungsfähigkeit zu blockieren drohen, wo man nur noch gebannt hinstarren kann auf ir­gend­ei­ne Lo­kalität oder auf weiter nicht mehr erklärliche Momentaufnahmen, die kaum mehr als die Künst­lich­keit, Ba­na­lität und Pein­lichkeit der damaligen Situation doku­mentieren, dort also, wo nichts mehr auf ei­nen grö­ße­-

 

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