ZWEITER LEBENSRAUM: VON PHANTASIEBILDERN ÜBERWUCHERT
--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
So
weit der hier bei mir jedesmal im Uhrzeigersinn verlaufende visuelle
Erinnerungsschematismus „Häusliche Rheinwiesen
meiner Kindheit”. Wenn ich aus diesem Schematismus
hinaustrete, fällt mir noch ein, daß ich um 1975, beim Lesen
der Einsiedlerszene im Simplicius
Simplicissimus, an die Umgebung von Baum und Wäldchen
denken mußte (Simplicius wird in einem hohlen Baum
vom verwilderten Einsiedler aufgespürt, den er für einen Wolf
hält). Und daß ich ebenfalls um 1975, als ich in Motte-Fouqués
Undine von der verwunschenen Waldszenerie
mit bärenhaften Wesen und Einsiedlern las, noch einmal an diese
Rheinwiesen erinnert wurde.
Diese
beiden späten Lektüreassoziationen gehören wie jene späte
Rondell-Assoziation des Laufenlernens noch nicht zu den Bildszenen,
die sich in dem wie automatisch ablaufenden räumlichen
Erinnerungsschematismus
einstellen. Zwar scheinen sie in ihrem Märchencharakter
gut zu den Primärassoziationen,
den Lesephantasien des Acht- bis Zehnjährigen,
zu passen und könnten vielleicht durch wiederholte
Erinnerungstätigkeit fester damit
verknüpft werden. Doch wäre dies auch wünschenswert?
Wären sie hier, im Bereich meiner (früh-)kindlichen
Erlebnisse und Phantasien, nicht vielmehr deplaziert? Und
überdies ihrerseits aufgeladen mit
einer Assoziationskraft, die auf
diese Weise – wie etwa die Szenerie in Fouqués
Undine
mich weiter zu verwandten Szenerien in
Fontanes Romanen Effi
Briest
und Der
Stechlin
hinzieht – schließlich meine verschiedenen
Lebensabschnitte und Erfahrungsniveaus
ineinander verwirren müßte? Anders wäre es
dagegen mit der assoziativen
Lokalisierung des noch bildlosen, technisch mir noch nicht
recht vorstellbaren Laufenlernens. Die
Ansiedlung dieser Phantasieszene in dem Raumschema des
kleinen Rondells beim Hause der Großmutter
wäre mir lieb, gehört doch dieser Vorgang auch
biographisch diesem Zeitraum an. Wird er dort einmal
zusammen mit den beschriebenen
Primärszenen auftauchen können? Und sei es „nur” als
offenkundiges Pseudoerlebnis wie
meine Kinderwagenszene?
Wie
ich dann Jahre später beim Nachfragen von meinem Onkel erfahre,
hielt ich mich bei diesen Gehversuchen, die wohl schon eher kleinere
Spaziergänge waren, wackelnd und ruckelnd an einer seiner
Krücken fest, behinderte ihn, dessen rechtes Bein
amputiert war, also zusätzlich: Gleich nach dieser
telephonischen Rückfrage meine ich zu spüren, wie ich
beim Laufen ruckweise weitergezogen werde –
oder steigt hier nur das ähnliche, erst sehr viel später
erfahrene Gefühl wieder auf, wie es ist, wenn einem beim
Fahrradfahren jemand in die Lenkstange greift? Es
scheint sich hier eine weitere Pseudoerinnerung zu bilden. –
Wiederum Monate später: Denke ich nun an diese
Situation, erblicke ich regelmäßig auf
jener linken Straßenseite des Rondells umrißhaft und
dunkel ein kleines Kind an der rechten Seite
eines Erwachsenen, beide ein wenig schräg von hinten rechts her
gesehen (per-
- 9 -