ZUR-SPRACHE-BRINGEN UND ÜBERARBEITEN DES ERINNERTEN
-----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
te
noch wollte, angelockt nämlich durch die luftigen
Erinnerungsbilder vor dem Einschlafen und
dann, 1976, förmlich initiiert durch jenen Schock vor dem
Klingelschild des ehemaligen Elternhauses,
als ich dort auf ein verschollenes und mich anklagendes ‚Ich’-Phantom
traf.
Nach
der langjährigen Recherche bin ich weiter denn je davon entfernt, in
einem objektivistischen Sinne nach der Richtigkeit der
erinnerten Ereignisse und Eindrücke zu fragen. Denn
als weit bedeutsamer und triftiger hat sich die schon in mein
damaliges Problembewußtsein
laufend hineinspielende Phantasie erwiesen; ein sinn- und
gestaltgebendes Zusammenspiel, das
mich ebensosehr überraschte wie es mich
neues Vertrauen in die eigene Biographie
fassen ließ. Die Entwicklung war nicht geradlinig,
scheint sich jedoch weithin einer intuitiven und
streckenweise wie traumwandlerischen
Sicherheit zu verdanken, durch die das Kind vor allem
in feindseliger Umgebung, nicht zuletzt
durch Verstellung oder Lug und Trug, durch unscheinbare
Renitenz oder offene ‚Meuterei’ sowie
mit Hilfe all dieser nichtbewußten Impulse und
Fiktionen, immer wieder wie mäandrisch
zurückgefunden habe zu dem, was ihm gemäß
sein könnte.
Nur hinsichtlich
der SPRACHE war schon von Beginn an nach der Verläßlichkeit
der Erinnerungen zu fragen. Deren fragmentarischer
und verwischter Charakter droht durch die
Beschreibungssprache des Erwachsenen vollends unkenntlich
zu werden, durch eine Sprachkompetenz, die
in ihrem technischen oder abstrakten Vokabular
ebenso wie in ihrem flüssigen und argumentativen
Duktus insbesondere der Bewußtseinsbildung des
Kindes zuwiderläuft. Die Gegenmittel
stellte ich auf S. 16-20 vor und richtete außerdem
für Vermutungen und Erläuterungen, die
deutlich über den Horizont des Kindes hinausgingen,
den in kursiver Schrift abgesetzten
Textraum ein. Aber auch in der nun möglich gewordenen
unscheinbaren Beschreibungssprache blieb ich, der Erwachsene,
immer präsent; und trotz jener Rücksichten auf die
Beobachtungssprache des Kindes, auf dessen
Vokabular und Perspektive, setzte
sich bei der Bestimmung der Erinnerungsszenen, ja
schon bei ihrer stummen genaueren Musterung,
ein Formulierungswerk in Gang, das meinen
gegenwärtigen Ansprüchen an Stimmigkeit,
Ausdruck, Tempo und Ökonomie zu genügen hatte. Und ihnen
auf Anhieb doch so wenig genügen konnte,
daß jede Textpassage bei ihrer Entstehung in der Regel
mehrmals und in größeren Zeitabständen
das eine oder andere Mal erneut gründlich zu
überarbeiten war.
Diese
jedem Schreibenden vertraute Prozedur oder vielmehr Erkenntnis- und
Arbeitshaltung scheint allerdings mit dem Impuls des
Erinnernden zu kollidieren, die zu einem früheren Zeitpunkt
abgefaßte Erinnerung als die authentische
gelten und stehen zu lassen. Verschiedene Male mußte ich so auf
interessante Einzelheiten hinweisen,
die mir nach wenigen Jahren schon nicht mehr präsent waren,
so eine ausweichende Antwort, die ich dem
mich verhörenden Schulrektor gab. Jener Impuls läßt sich mit
dem legitimen Bedürfnis nach einer
Textüberarbeitung aber dann vereinbaren, wenn
man – wie ich es zu halten pflegte – die frühere
Aufzeichnung vergleichend heranzieht
und im Zweifelsfalle zitiert.
- 46 -