FEHLER BEI DER ERINNERUNGSBESCHREIBUNG
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nerns
und allenfalls nach gängigen sprachlichen
Mustern bei der Erinnerungselaboration gefragt, nicht
aber danach, was
schon die mündliche oder schriftliche
Wiedergabe aus dem Bewußtseinsinhalt
,Erinnerung’ macht
und inwiefern deshalb jeder Befragte sich zuvor
noch über seine Beschreibungssprache Klarheit zu verschaffen
hätte. Auch die Autobiographien von
Literaten sind hier durchweg unsensibel und
verfälschen den Charakter von Erinnerungen,
indem sie daraus, nach allenfalls stockendem
Beginn für die früheste Kindheit, sehr bald
schon flüssige Erlebnisberichte
und urteilssichere Darstellungen
machen. Im Grunde wollen sie ja auch nicht jene oft
undeutlichen, sich rasch verflüchtigenden
oder offenbar in einer späteren Perspektive
überarbeiteten Erinnerungsszenen
und -bilder als solche wiedergeben, sondern
die mehr oder minder kämpferische, jedenfalls
profilierende Bewegung eines
Lebenslaufs inmitten seiner Zeit schildern.
Selbst unser dichterischer Genius des Sicherinnerns,
Marcel Proust, der wie in Trance stundenlang
unbeweglich vor einem verheißungsvollen Objekt oder in
einer bestimmten Körperhaltung
verharren konnte und auch deshalb wie kein
anderer das körpergebundene Aufsteigen der Erinnerung ins
Bewußtsein festzuhalten vermochte,
beschreibt zwar noch minuziös die (beseligenden)
Empfindungsinhalte
der evozierenden wie der evozierten
Situation, läßt aber die anderen
Erinnerungsinhalte nur kunstvoll überarbeitet zur
Erscheinung kommen: als sprachlich opulent
arrangierte Szenen und Schauplätze,
die mit einem Schlage, tatsächlich wie eine
der auch in unserer Kindheit noch zu bestaunenden, in
einer Jakobsmuschel embryonisch
verborgenen japanischen Szenerien, dann wundersam
entfaltet als Texte vor einem liegen.
Man
müßte es daher einmal anders machen und für seine Erinnerungen,
insbesondere an die frühe Kindheit, eine
Beschreibungstechnik wählen, die
nicht narrativ, sondern fragmentarisch
ausgerichtet ist,
in der sich die Szenen und Momente also
unvermittelt einstellen können,
sinnindifferent
bleiben dürfen und
sich auch als unentzifferbar wieder
schließen könnten. Nur so, begleitet
von einer typographisch abgesetzten
Kommentarsprache,
die sich aus der Perspektive des Erwachsenen auch verborgenen
Motiven und Strukturen zu widmen hätte,
könnte man sich ungestört, ohne auf szenischen Zusammenhang
und Plausibilität Rücksicht nehmen zu
müssen, dem Verwischten, so oft fragwürdig Bleibenden und
rätselhaft Polyperspektivischen der Erinnerungen
zuwenden. Dabei empfiehlt es sich, für
die besonders heikle Erfassung der Kindheitserinnerungen
nur das Präsens zu
gebrauchen. Wie man nach wenigen Selbstversuchen
bemerken kann, schärft es in seiner aufreizend
paradoxen Präsenzbehauptung den
Sinn für all das, was aus der Perspektive ihres
erwachsenen Verfassers einzufließen
droht. Der Gebrauch des Präteritums schläfert
einen hierbei viel zu leicht ein, gerade der dadurch
eingestandene (zeitlich-)geistige Abstand läßt
viel eher Vokabular und Urteilsvermögen
aus der späteren Zeit einfließen – eine
mentale Distanzierung, die erklärt, wieso ich umgekehrt
das Präteritum unwillkürlich immer
dann verwenden möchte, wenn ein mir besonders unangenehmes
Erlebnis zu schildern ist.
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