ERSTER LEBENSRAUM: ERINNERUNGSAUTOMATISMUS ENTLANG DEN ERLEBNISSZENEN
--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
sen
war, kreuz und quer mit Nachforschungen zu Schauplätzen und
Personen. Jene letzte Empfindung, allem dort
für immer entfremdet zu sein, dürfte darum nur eine
Schock-
oder Schutzreaktion
gewesen
sein,
eine
Art Totstellreflex
gegenüber der wie vampirischen Bedrohung,
die noch von dem Klingelschild ausging, hinter dem sich
mein jugendlicher Wiedergänger zu verbergen schien.
Eine Reaktion, die wie das Zerreißen
der Photos im Vorjahr ein
Akt der Verleugnung
war und gleichzeitig gutgeheißen wurde von einem
konkurrierenden tieferen Wahrheitsgefühl.
Wie ich jene gestellten Photos als irrelevant und
pseudo-objektiv verwarf, so jetzt die Relikte meiner
alten Wohnumgebung; und hier wie dort ließ sich die Vernichtung
als Steigerung oder Errettung biographischer
Integrität genießen. Welch heikle
Kollision der Selbstempfindungen
mit dem unschätzbaren, oft wirklich unabsehbaren
Wert des Dokumentarischen, seien es Photos oder Lebensräume!
Und doch wird man sich von Zeit zu Zeit ähnlich entscheiden
müssen. Immer dort, wo die materiellen
Relikte unsere Erinnerungsfähigkeit zu blockieren
drohen, wo man nur noch gebannt hinstarren kann
auf irgendeine Lokalität oder auf
weiter nicht mehr erklärliche Momentaufnahmen,
die kaum mehr als die Künstlichkeit, Banalität
und Peinlichkeit der damaligen Situation dokumentieren,
dort also, wo nichts mehr auf einen größeren
oder noch unbekannten Zusammenhang hindeutet, sollte
man sich dieser Dokumente entledigen oder auch die
Rückkehr einstellen. Zumal einem ja noch
zur
Rekonstruktion das
von den materiellen Objekten und der räumlichen Begegnung
unabhängige Erinnerungsvermögen
verbleibt,
das spürbar hinter jenem tieferen Wahrheitsgefühl
stand
und es vielleicht auch in der Sache beglaubigen
könnte.
*
SICHERINNERN:
Wohl
am leichtesten und luftigsten vor dem Einschlafen,
wenn man sich, schon gelöst vom Tage, über ein tausendmal
durchlaufenes Zentrum seiner Kindheit beugt. Erinnerung
kann hier zu einem überirdischen Vermögen werden,
das aus einer merklich erhöhten Perspektive –
die sich gelegentlich der Vogelperspektive
annähert – eine kontinuierliche Verbindung schafft zwischen
den zeitlich auseinanderliegenden,
in unserem Lebensgefühl aber zueinandergehörigen
Episoden, Begegnungen und Phantasien. Eine
zeitüberschreitende Komposition,
in der sich die Umgebung wie
mit einer Filmkamera
fast
nach Belieben abfahren läßt. Zu dieser
mühelos und weithin automatisch ablaufenden
Raumerkundung gesellt
sich nun die eigentlich szenische
Erinnerung,
die, mit einzelnen Erlebnisbildern operierend, in dieses
Raumkontinuum ihre zeitlich unterscheidbaren
Akzente setzt, doch so tolerant, daß die oft
beträchtlichen Zeitenabstände
zwischen den Erlebnisszenen unwesentlich werden
und wir uns in einem so niemals erlebten, nun
aber in seiner Quintessenz zu erfahrenden
Zeit- und Phantasieraum bewegen. Und zwar bleibt es trotz jener