DOPPELGÄNGER ALS SELBSTERWEITERUNGEN
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Wirklich
scheint es jener tiefe Glaube an unsere oder nur an meine
Unwandelbarkeit zu sein, der mich schon irritieren
oder bestürzen konnte, wenn ich einmal eine fremde
Person fälschlich mit einer Gestalt meiner Erinnerung
identifizierte. Und der mich beim Wiedersehen
so manchesmal veranlaßte, die einst vertraute Person, die
sich mir nun als gleichgültig geworden entpuppte, lieber
als sich selber untreu geworden zu bedauern,
als ihr eine nennenswerte eigene
Weiterentwicklung zuzugestehen. Am verstörendsten
waren solche Verkennungen der Identität,
wenn sie nun gar mein SELBSTGEFÜHL betrafen und ich einen
Augenblick lang den Eindruck hatte, mich
als Doppelgänger vor
mir zu haben. Dieses als „Heautoskopie”
bekannte Phänomen hat schon Goethe im 11. Buch von
,Dichtung und Wahrheit’ beschrieben, wie er nämlich nach
seiner von Schuldgefühlen begleiteten
Trennung von Friederike Brion aus
Sesenheim davonritt und „mit den Augen ... des
Geistes” sich selbst denselben Weg zu Pferde
wieder entgegenkommen sah (offenbar eine
halluzinatorische seelische
Wiedergutmachung, da er dieses „wunderliche
Trugbild” sogleich als „Beruhigung”
empfand).[7]
Ich selber habe nun zwei
Varianten dieses
Phänomens kennengelernt; bei der einen
kam mir jemand ernstlich als mein Alter ego vor,
während ich mich bei der anderen einen Moment lang als jemandes
Doppelgänger empfand. Letzteres
widerfuhr mir, als ich meinen Bruder nach einem Jahrzehnt
(nach unserer späten Jugend) zum erstenmal wiedersah.
Und zwar lief dies in zwei Etappen ab. Zunächst, nach
einigen Stunden, war mir unversehens, als
hätte ich meinen Vater vor mir. Monate
später nämlich machte ich mir dazu folgende Notiz:
„Tiefes Erschrecken, als mein Bruder beim
Begrüßen seiner geschiedenen Frau auf
einmal, in einer ganz saloppen Körperbewegung
zu ihr hin, leibhaftig wie unser Vater dasteht.” Und ich fuhr
in meiner Notiz fort: „Seit jenem Wiedersehen
sehe ich mich öfter als Doppelgänger meines Bruders, d.h.
mich von hinten, von seinem Hinterkopf her in
seine Körper-Bewegung versetzt, so wie ich
mich früher zuweilen als Phantom-Bewegung meines
Vaters sah”.
Von
dieser zuletzt genannten früheren, mir gewiß peinlichen
körperlich-visuellen Identität mit meinem von mir gemiedenen
Vater weiß ich nichts Bestimmtes mehr. Daß ich
zunächst, bei der „saloppen” Bewegung des Bruders,
unseren Vater vor mir hatte, lag sicherlich an
einer seltenen Übereinstimmung in beider Körpersprache
– beide in der Rolle des „Ehemannes” – , die
mir erst nach einer so langen Trennung (und nach der
Eheschließung des Bruders) auffallen konnte.
Womöglich war sie familiär geprägt und wurde gar
ansatzweise von mir geteilt, so daß mir die
spätere imaginäre Identifizierung mit meinem Bruder erleichtert
wurde. Wie auch immer, in kurzer Zeit jedenfalls
brachte es meine Phantasie fertig, jene mir zutiefst
unangenehme Vision einer
(partiellen) Identität mit meinem
Vater zugunsten dieser sie überlagernden
Identifizierung mit meinem Bruder abzulösen.
Mittlerweile hat auch sie sich wieder verflüchtigt,
hat offenbar ihre seelische Schuldigkeit getan.
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[7] Johann Wolfgang
Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, hg. v.
Klaus-Detlef Müller (Frankfurt/M.
1986), S. 545
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