PHANTASIE UND BEGLEITTRÄUME DES ERINNERUNGSPROZESSES
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Nur
allmählich habe ich mich bei meinen Erinnerungsanalysen vom hohen
Wert sogenannter irrationaler Fähigkeiten überzeugen
können und beinahe widerwillig gelernt, sie als Indizien
und gar als eigene Erkenntnisquellen ernst zu
nehmen. Neben der erstaunlichen Leistung der
Phantasie, die oft über viele Jahre hin das Erinnernswerte
durch Assoziationen und Bildvisionen
strukturiert, frappierten
mich etliche TRÄUME,
die mir während
der Erinnerungsbeschreibung
und mehr noch danach halfen, meine Einstellung zu
einigen Hauptpersonen meiner
Vergangenheit zu festigen oder zu revidieren. Die
seelische Reaktionszeit entsprach in etwa der
Gewichtigkeit der Lebensproblematik.
Ein Traum von meiner Mitschülerin Elke gab mir spontan eine
unbewußte Antwort auf die Frage, die ich
mir am Vortag gestellt hatte, wem ich nämlich als Kind
überhaupt hätte schreiben können. Andere
Träume reagierten mit größerer
zeitlicher Verzögerung auf langwierigere
Erinnerungsprozesse und schienen mir
anzuzeigen, daß mein
unbewußtes Seelenleben die
von
mir gewonnenen Einsichten
und Vermutungen auf seine Weise zu
akzeptieren begann.
Am reinsten sicherlich in dem Traum über meine
Pfadfinderzeit, die ich so lange verdrängt hatte und
der ich mich in einer Reihe von Wiederbegegnungen
mit den ehemaligen Weggefährten zu
stellen hatte – ein in sich zeitlich differenzierter
Traum, der mir zum Sinnbild dieser seelischen
Rückeroberung eines ganzen Lebensabschnitts wurde.
Nahm ich ihn als Bekräftigung einer mir zuvor
unvorstellbaren Offenheit und gelassenen
Akzeptanz, so wurde eine Traumsequenz mit Elke, die ich in dem
einen Jahr nach meinen Aufzeichnungen über
unsere gemeinsame Schulzeit protokollierte, zu der
endgültigen Verabschiedung von einem
Idol, das sich überlebt hatte. Warum, deutete der Verlauf
dieser Träume selbst an, in denen es mir zunehmend
gelang, von ihr wiedererkannt zu werden.
Dies war offenbar nur im Traum zu leisten, die seelische
Bestätigung, sie durch meine Erinnerung denn
doch noch erreicht und „berührt” zu haben. Das
kühle Aneinandervorbeigehen
im Foyer des Traumkinos konnte ich dann auf der
Stelle als Abschiedsbild akzeptieren,
ich, der Erwachte. Wie tief und wie lang aber, mir so gar nicht
bewußt, muß es mich noch weit über Kindheit und Jugend
hinaus geschmerzt haben, gegen Ende des vierten Schuljahres
unter so widrigen Umständen von ihr
getrennt worden zu sein! Zugleich mit der
Erinnerungsanalyse dieses Abschnitts meiner
Schulzeit löste sich auch Elke als problematische
Seelenfigur in mir auf.
Angesichts solch
bedeutender irrationaler Verständnishilfen ist nun doch zu bemerken,
daß die Trennung einer rationalen von einer
irrationalen Sphäre mit je eigener Gesetzlichkeit zu einem Dogma
geworden ist, das für beider Ineinanderwirken
blind gemacht hat. Nur wer die Erkenntnisleistungen
von Traum und Phantasie
nicht länger an den Einsichten des Intellekts mißt,
sondern sie als intuitive und hypothetische
Antworten oder Vorschläge gelten läßt, wird
allererst genauer zu unterscheiden lernen, ob sich hier
primär verdeckte Trieb- und Willensrichtungen
anmelden, oder ob hier umfassendere Lebensmöglichkeiten
in so extremer Konstellation
durchgespielt und unsere persönlichen Beziehungen so
radikal auf die Probe gestellt werden können, daß wir bei
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