ERINNERUNGSSTEUERNDE PHANTASIE
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Kaum
anders als den Personen – auch den einst gefürchteten – erging
es vielen Schauplätzen. Manch Erinnerungsbild
an Filme des Acht- bis Zehnjährigen erscheint mir auf vertraute
Straßen, Plätze oder Zimmereinrichtungen
projiziert, wobei durchweg ein sachgemäßer
Zusammenhang zwischen Vorstellungsbild und Ort
festzustellen ist. Von fundamentaler Bedeutung
für die Erinnerungsbildung aber sind die
AURAPHANTASIEN,
diese Lektüre- und Phantasiebilder,
die sich den zentralen Stätten der Kindheit und Jugend
hinzugesellt und mitunter die eigentliche
szenische Erinnerung überlagert haben. Auf eine noch naive
assoziative Weise trug sich dies für
den Lieblingsspielplatz des Fünf- bis Siebenjährigen
an seinem „Ulliquacker”-Bach zu, der sich im
Laufe weniger Jahre in eine tierdämonische
Landschaft um den Klapperstorch verwandelte.
Sachbezogener sind die späteren Phantasiebilder,
die meinen in der Sexta bis Quarta gelernten
Totengedichten entstammten und mein letztes
Wegstück vor dem Gymnasium zu einem Zugang
in die Unterwelt machten; mir damals nicht
bewußt, aber so gebieterisch, daß sie noch Jahrzehnte
später verwandte Gewalt- oder auch
Rachephantasien an sich ziehen konnten. Und von
solchen Bildern regelmäßig umstellt ist mein
Elternhaus:
Das Rondell mit dem Haus der Großmutter hat sich in
mir zu einer Gedenkstätte an den frühen Tod der
dortigen Spielfreundin verwandelt; die
der nächsten Wohnung gegenüberliegenden
Rheinwiesen sind von Märchen- und Romanszenen
umsäumt; über dem Elternhaus des Acht- bis
Zwölfjährigen steht das Blutsonnenbild
des erschlagenen Heideknaben; beim
letzten Elternhaus sind weitere
Alter-ego-Figuren wie Klaus Kinski und Peter
Schlemihl angesiedelt, in denen sich die
allmähliche Neutralisierung
väterlicher Hausgewalt dokumentiert und neben
dem mir nun möglichen Widerstand sich auch eine
denkbare Rekultivierung meiner
Herkunft anmeldet. Mögen all diese
Auraphantasien sich mitunter auch wie
Halluzinationen ausnehmen,
plakativ und tendenziös sein, so sind sie
doch durchweg triftig. Und derart
lebendig und subversiv,
daß sie sogar als Menetekel, als Angst- und
Schreckensbilder meist noch offen für
Antworten auch des Erwachsenen blieben! So
hat die mir weithin unbewußte,
phantasiegesteuerte Erinnerung meine
wichtigsten Lebensstätten transzendieren
können, indem sie aus ihnen zugleich Orte der
Imagination, des Eingedenkens, des
Widerstandes und der Neuorientierung machte.
Gewiß, Phantasien
und Erwartungen spielen immer auch in unsere jeweilige Gegenwart
hinein, prägen sie aber nicht annähernd so massiv und nachhaltig,
wie es in dem langen unwillkürlichen, schon in der Kindheit
einsetzenden Prozeß der Erinnerungsbildung
geschehen ist. Inwieweit diese und andere Ergebnisse meiner
Selbstbeobachtung sich verallgemeinern
lassen, kann ich nicht beurteilen, vermute es
aber schon deshalb, weil ich selber solchen
Phänomenen lange Zeit keine weitere Beachtung
schenkte. Die
künstlerische Phantasie allerdings
dürfte ihre eigenen zeitüberschreitenden Wege gehen und einen
Erinnerungsprozeß absolvieren,
der auf kaum durchschaubare Weise sich erfinderisch
mit den gegenwärtigen Erfahrungen verquickt und es in dieser
Gestalt neu in die Welt setzt.
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