MICHEL DE MONTAIGNE
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Die
Frage nach der Offenheit und Plastizität des
Menschen wird hier so umsichtig und
verantwortungsvoll angegangen, daß
angesichts der chaotisch sich aufdrängenden
Gestalten des Lebens immer entschiedener
nach einer gleichermaßen verbindlichen
und selbstbestimmten Regelung gesucht
wird.
Montaigne war auch
darin bahnbrechend, daß er – schon aus erkenntnistheoretischen
Gründen – keine
hierarchische oder fundamentale Differenz
zwischen Tier und Mensch mehr
gelten ließ. Er vertrat gar die Ansicht, „zwischen manchen
Menschen sei der Abstand größer als zwischen
manchem Menschen und manchem Tier”.9
Die
Gottesebenbildlichkeit,
die der Mensch sich eitel
angemaßt hätte, wäre auf eine
Degradierung des Tieres
hinausgelaufen; und die Klage, das
verlassenste aller Lebewesen zu
sein, das sich in seiner Notdurft der Felle und des Fleisches
der Tiere bemächtigen müsse, war
für ihn eine gleichermaßen sentimentale wie
heimtückische Übertreibung.10
Was nun aber die angeblich
allein dem Menschen vorbehaltenen höheren Fähigkeiten
betrifft, so führt Montaigne eine Reihe von
Beispielen dafür an, daß sich
die Tiere auf ihre Weise ebenfalls einsichtig zeigen
und gleichfalls Tugenden wie Treue,
Dankbarkeit, Hilfsbereitschaft, Reue und sogar
einen religiösen Sinn an den Tag legen.11
Daß Bewußtheit,
Reflexionskraft und vor allem das die
Gegenwart transzendierende
Vorstellungsvermögen den Menschen vor dem
Tier auszeichnen, steht auch für ihn außer Frage,
doch erkennt er darin eine neue Quelle menschlichen
Unbehagens und
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9
Essais
I 42, a.a.O., S.
394. Alle
sozialen Rangabstufungen waren für ihn jedoch „bloß
Äußerlichkeiten, die in keiner Weise einen
Wesensunterschied zwischen den Menschen
begründen” (a.a.O., S. 397).
10
Essais
II 12,
a.a.O.,
S. 192f.
11
II 12, S. 197-210. Montaigne fragt hier etwa, ob das Verhalten eines
Fuchses, der vor der Überquerung eines zugefrorenen
Flusses prüfend sein Ohr ans Eis hält und etwaige
Schwachstellen an den Fließgeräuschen identifiziert, nicht eine
schlußfolgernde Denkfähigkeit verrate; wie
auch ein Hund, der auf der Suche nach seinem Herrn an einer
Dreiwege-Gabelung zwei Wege abschnüffelt
und danach, ohne weiter Witterung aufzunehmen, unverzüglich
in den dritten Weg stürmt. „Wir können auch sagen, daß die
Elefanten eine Art religiöses Gefühl haben, denn man
sieht sie nach wiederholten Waschungen und
Reinigungen, den Rüssel wie Arme hocherhoben
und die Augen fest der aufgehenden Sonne
zugewandt ... aus eigenem Antrieb lange in
Meditation versunken dastehn” (a.a.O., S. 210). -
Den Leugnern der Verwandtschaft des Menschen mit
dem Tier gibt er Folgendes zu bedenken: „Nachdem man sich in Rom an
das Schauspiel des Hinmetzelns von Tieren
gewöhnt hatte, kamen die Menschen an die Reihe,
namentlich die Gladiatoren.” Essais
II 11, a.a.O.,
S. 160
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