BILDER FONTANES GEGEN DEN TOD. VOM VERSTECKSPIELEN ZUM KRYPTISCHEN ERZÄHLEN
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Bildquelle: Ullstein Taschenbuch Verlag
Ich komme zu der
letzten und sublimiertesten Variante der kriminalisierten
Verstecksuche, zu 'Quitt'
(1890). "Die verborgene Schuld, vor niemand
eingestanden, das ist die schwerste der Strafen", bemerkt
Lehnert Manz etliche Zeit nach seiner Tat.21
Die
Auflösung seines Gewissenskonflikts erscheint denkbar konventionell
und als pedantische Einlösung des Buchtitels, wenn
Menz' Todesumstände in der Neuen Welt denen am Ort seines Opfers im
Riesengebirge mit peinlicher Akkuratesse
angeglichen werden. Das Demonstrative der Schuld-und-Sühnethematik
hat mit großem Erfolg
über das verborgene eigentliche Erzählinteresse hinweggetäuscht.
'Quitt'
riskiert –
energischer als das zwei Jahre zuvor veröffentlichte Ribbeck-Gedicht
– nichts Geringeres als einen zeitpolitisch eingekleideten Angriff
auf die christliche Lehre vom Erlösertode. Die
Form ist die der Travestie, die Christi Passion in einer
zeitgemäßen, durch Thron-und-Altar-Devotion korrumpierten Symbolik
nachspielt.
Repräsentiert
wird dieser Obrigkeitsstaat durch Lehnerts persönlichen Widersacher,
den schikanösen und eitlen Förster Opitz ("Unterschiede müssen
sein, Unterschiede sind Gottes Ordnungen"),22
durch
den beschwichtigenden Pastor Siebenhaar, in dessen
Studierstube Lehnert das noch von der Konfirmation her bekannte
Arrangement vorfindet ("Das
Christusbild, mit Friedrich Wilhelm III. und dem Kronprinzen zur
linken und Rechten")23
und
durch preußische Funktionseliten wie diesen Präsidenten,
der seine Nichten regelmäßig zu Weihnachten und zu Kaisers
Geburtstag beschenke.24
Schon
in der Anfangsszene, in der Opitz aufreizend dekoriert
aus dem für ihn günstig verlaufenen Gottesdienst heraustritt, tritt
Menz seine rebellische Christus-Nachfolge im Zeichen des Kreuzes an:
Es ist das Eiserne
Kreuz,
das Opitz ihm einst verweigerte und das über allerlei Redensarten
und Anspielungen allmählich Lehnerts Passionszeichen wird:
"Wenn
er nicht war, so hätt ich das Kreuz ... Immer hat er mir den Weg
gekreuzt. Hol ihn der Teufel!"25
"Um
das Kreuz hat er mich gebracht, aber mein Haus- und Lebenskreuz war
er von Anfang an."26
Mit
dem Anpredigen in der Kirche habe Pastor Siebenhaar erreichen wollen,
so einer von Lehnerts Kameraden, "daß er zu Kreuze kriecht",
und mit ebendieser Formel aus der Karfreitagsliturgie beschreibt
Opitz vor dem Ohrenzeugen Lehnert dessen erklärte Bereitschaft,
einzulenken.27
Lehnert
selbst betrachtet sich nach der Bluttat als das "Werkzeug"
göttlicher Vorsehung.28
Drüben,
in der amerikanischen Mennonitengemeinde, trifft er auf sein
französisches Alter ego, den entflohenen Kommunarden L'Hermite, der
einst den Pariser Erzbischof erschießen ließ und nun von einer
Gestalt "mit dem Kreuz auf der Brust" heimgesucht wird
(Menz setzt diese Erscheinung mit der seines Opfers Opitz gleich);
auch hat L'Hermite auf einer Kirchenfahne Christus mit der
Physiognomie des Verräters Judas Ischariot
dargestellt und will eines Tages ein Altarkreuz zur Anrufung des
Geistes der Revolution zweckentfremden.29
Wenn
Menz dann unter der Last einer Weihnachtstanne wie ohnmächtig
zusammenbricht und
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21
N VI,
139. Ähnlich
kommentierte Baltzer Bocholt noch vor seiner Tat den Spruch "Ist
auch noch so fein gesponnen, muß doch alles an die Sonnen":
"Und ist auch ein Trost und ein Glück, daß es so ist ... was
ein rechtes Unrecht ist, das will
auch heraus und kann die
Verborgenheiten nicht aushalten. Und eines Tages tritt es selber vor
und sagt: hier bin ich." (N II, 219)
22
N
VI, 2 23
N
VI, 10. Christus
wie zwischen den beiden Schwerverbrechern auf Golgatha! Auch dies
eine verschlüsselte Charakterisierung der Zwangslage von Lehnert
Menz selbst.
24
N
VI, 95
25
N
VI, 13
26
N
VI, 65
27
N
VI, 19, 53
28
N
VI, 75
29
N VI, 201, 139, 123, 142 bzw. 140 und 151
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