BILDER FONTANES GEGEN DEN TOD. ›UNTERM BIRNBAUM‹
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Bildquelle (Foto von Bettina Machner): www.stadtmuseum.de/objekte-und-geschichten/theodor-fontane-manuskripte
er
diesen seinen Entlastungszeugen auch seelisch für immer bei sich
behalten zu wollen. Hradschecks Ehefrau und Komplizin Ursula,
die beim gemeinsamen Aushecken des Mordes "birnenförmige
Bummeln von venetianischer Perlenmasse" in
ihren Ohrringen trug,19
sucht auf ihre Weise Distanz zu der Leiche im Keller zu gewinnen,
dringt auf ein neu "aufgesetztes Stockwerk" des Hauses und
zieht dann sogleich nach oben. Hradschecks schizoides
Bemühen, zu seiner seelischen Entlastung die Tat auf zwei
verschiedene Schauplätze aufzuteilen, wird in der Folge
heimtückisch unterminiert. Daß der alte Baum noch einmal prächtig
Früchte trägt, führt man auf den Franzosen zurück, und
bald
macht die Rede von den "Franzosenbirnen" die Runde; dieses
Ribbecksche Motiv wird auf die Spitze getrieben,
wenn Hradschecks Ladenjunge Ede bei der Anspielung der Jeschke
(Verwandlung der Malvasier in eine "Franzosenbeer") vor
Schreck die angebissene "nachgereifte" Frucht fallen läßt
und in seinem Grauen sofort zielstrebig weiter auf den angeblichen
Spuk im Keller gelenkt wird. Zum letzten Schritt: Die Erde gehe vom
Birnbaum schräg zu seinem Keller hin, da könnte der Franzose
wohl "en beten rutscht sinn",20
mit diesen divinatorischen Worten treibt die Alte zuletzt
auch Hradscheck in die Falle, der beim verzweifelten Versuch, die
Leiche in die Oder zu verbringen, durch ein weggerolltes Ölfass
in diesem Keller eingesperrt wird. Der
Analogiezauber hat sich erfüllt, wirklich kommt im
Augenblick der Entdeckung das eine Opfer wie das andere zum
Vorschein, halbverscharrt wie einst der Franzose, mit nur einem
herausragenden Arm, wird nun der ermordete Pole aufgefunden. Und
neben ihm der tote Mörder, der so endgültig in das Versteck
einbezogen wird.
Zum Entsetzen
Hradschecks und auch Bocholts ersteht das Opfer neu. Die
Schuldgefühle, die im Leichenversteck eine Zeitlang wie
materialisiert und abgelegt schienen, greifen zerstörerisch über
auf die eigene, in ihrer Stabilität eitel überschätzte Identität.
Jenes
zeitüberschreitende Moment freilich, wie das versteckte Opfer
zaubermächtig aus dem Versteck treten und noch einmal in die
Gegenwart eingreifen konnte, wird Fontane in der Folge immer stärker
für das eigene Erzählen geltend machen,
bis er in seinen Altersromanen seine zeitkritischen Argumentationen
nur verschlüsselt erzählt und dem Leser auf nicht absehbare
Zeit vorenthält.
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19
N III, 326 20
N
III, 397ff.