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Selbsterweiterungen
II  Reiseberichte
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IV Film und Kindheit
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VI GERMANISTICA

DOPPELGÄNGER  ALS  SELBSTERWEITERUNGEN

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Wirklich scheint es jener tiefe Glaube an unsere oder nur an meine Unwandelbarkeit zu sein, der mich schon irritieren oder be­stür­zen konnte, wenn ich einmal eine fremde Person fälschlich mit einer Gestalt meiner Erinnerung identifizierte. Und der mich beim Wiedersehen so manches Mal veranlasste, die einst vertraute Person, die sich mir nun als gleichgültig geworden ent­pupp­te, lieber als sich selber untreu geworden zu bedauern, als ihr eine nennenswerte eigene Weiterentwicklung zu­zug­estehen. Am verstörendsten waren solche Verkennungen der Identität, wenn sie nun gar mein SELBSTGEFÜHL betrafen und ich einen Au­genblick lang den Eindruck hatte, mich als Doppelgänger vor mir zu haben. Dieses als „Heautoskopie” bekannte Phänomen hat schon Goe­the im 11. Buch von ,Dichtung und Wahrheit’ beschrieben, wie er nämlich nach seiner von Schuldgefühlen begleiteten Tren­nung von Friederike Brion aus Sesenheim davonritt und „mit den Augen ... des Geistes” sich selbst denselben Weg zu Pferde wieder ent­gegenkommen sah (offenbar eine halluzinatorische seelische Wiedergutmachung, da er dieses „wunderliche Trugbild” so­gleich als „Beruhigung” empfand).[7] Ich selber habe nun zwei Varianten dieses Phänomens kennengelernt; bei der einen kam mir je­mand ernstlich als mein Alter ego vor, während ich mich bei der anderen einen Moment lang als jemandes Doppelgänger emp­fand. Letzteres widerfuhr mir, als ich meinen Bruder nach einem Jahrzehnt (nach unserer spä­ten Jugend) zum ersten Mal wie­der­sah. Und zwar lief dies in zwei Etappen ab. Zunächst, nach einigen Stunden, war mir unversehens, als hätte ich meinen Vater vor mir. Monate später nämlich machte ich mir dazu folgende Notiz: „Tiefes Erschrecken, als mein Bruder beim Begrüßen seiner geschiedenen Frau auf einmal, in einer ganz saloppen Körperbewegung zu ihr hin, leibhaftig wie unser Vater dasteht.” Und ich fuhr in meiner Notiz fort: „Seit jenem Wiedersehen sehe ich mich öfter als Doppelgänger meines Bruders, d.h. mich von hinten, von seinem Hinterkopf her in seine Körper-Bewegung versetzt, so wie ich mich früher zuweilen als Phantom-Bewegung meines Vaters sah”.

   Von dieser zuletzt genannten früheren, mir gewiss peinlichen körperlich-visuellen Identität mit meinem von mir gemiedenen Vater weiß ich nichts Bestimmtes mehr. Dass ich zunächst, bei der „saloppen” Bewegung des Bruders, unseren Vater vor mir hatte, lag sicherlich an einer seltenen Übereinstimmung in beider Körpersprache – beide in der Rolle des „Ehemannes” – , die mir erst nach einer so langen Trennung (und nach der Eheschließung des Bruders) auffallen konnte. Womöglich war sie familiär geprägt und wurde gar ansatzweise von mir geteilt, so dass mir die spätere imaginäre Identifizierung mit meinem Bruder er­leich­tert wurde. Wie auch immer, in kurzer Zeit jedenfalls brachte es meine Phantasie fertig, jene mir zutiefst unangenehme Vi­si­on einer (partiellen) Identität mit meinem Vater zugunsten dieser sie überlagernden Identifizierung mit meinem Bruder ab­zu­lö­sen. Mittlerweile hat auch sie sich wieder verflüchtigt, hat offenbar ihre seelische Schuldigkeit getan.

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[7] Johann Wolfgang Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, hg. v. Klaus-Detlef Müller (Frankfurt/M. 1986), S. 545


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