Diese Studie knüpft an meine Bücher und Essays zu Schriftstellern an, die sich ihrer Zeit und damit womöglich auch jeder weiteren Überlieferung versagten. So zeigte sich in etlichen Romanen von Theodor Fontane und in August Klingemanns Nachtwachen von Bonaventura (1804) ebenso wie beim alten Goethe eine ausgeprägte Neigung, das eigene Werk oder wesentliche Dimensionen eines Werkes den Zeitgenossen vorzuenthalten oder nur in verschlüsselter Form vorzulegen. Diese faszinierende Geisteshaltung und die entsprechenden Werkdimensionen dürfen als „gegenzeitig” bezeichnet werden, da sie über vertraute Begriffe wie „unzeitgemäß”, „unzeitig” oder auch die Redeweise von einem mehr oder minder verborgenen „Subtext” weit hinausfren. Ließen es doch diese Autoren offenbar darauf ankommen, sich mit ihren kühnsten Werken oder anstößigsten Werkschichten nicht nur „ihrer” Zeit zu entziehen, sondern mit ihnen vielleicht überhaupt aus der Überlieferungsgeschichte zu fallen.
Nun hat sich die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen einer Absage an die Überlieferung in jüngerer Zeit radikalisiert. Nicht länger geht es nur um das individuelle Herausfallen aus der Tradition, vielmehr zeichnet sich ein kollektiv organisierter und womöglich irreversibler Bruch mit der – ohnehin prekären – Kontinuität menschlicher Kultur und Geschichte ab, ja mit der Verfassung des Menschen selbst. Was bislang für die Lebenspraxis noch nicht ernst zu nehmende Phantasmen vor allem der mitunter blitzgescheiten, auch philosophisch beschlagenen Science-Fiction-Literaten waren,1 ist mittlerweile über eine Reihe von Schlagworten wie Transhumanismus und Extropie, Cyberspace und -future, biodigitale oder virtuelle Gesellschaft, Präimplantations-Optimierung (PIO) oder Steuerung der Telomerase einer breiteren Öffentlichkeit zu Ohren gekommen. Das heißt, bei uns in
------------------------------------------------------------------------------------------
1 Zu ihrem Vordenker Stanislaw Lem vgl. Bernd Gräfrath, Es fällt nicht leicht, ein Gott zu sein. Ethik für Weltenschöpfer von Leibniz bis Lem (München 1998), S. 175-234
- 1 -