DOPPELGÄNGER ALS SELBSTERWEITERUNGEN
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Gleichfalls über zwei Hauptphasen verlief der umgekehrte Fall, als ich mich selbst in einem anderen erblickte, also nicht wie vorher in den anderen hineinschlüpfte, sondern den anderen als Doppelgänger meiner selbst zu Gesicht bekam. Es war ein ehemaliger und von mir sehr geschätzter Banknachbar, den ich drei Jahrzehnte nach unserer Schulzeit wieder besuchte. Bevor mir dies gelang, musste ich ihn stufenweise identifizieren, da auf der Telekom-CD viele Personen mit seinem Nach- und Vornamen angegeben waren. Als ich ihn dann anrief, war ich mir überhaupt nicht sicher, nun an den Richtigen zu geraten. Und konnte auch nicht die Stimme identifizieren, die gleich danach auf dem Anrufbeantworter zu hören war: sonor, mit einem hellen metallischen Oberton, dabei unerhört flüssig, wie sie diverse Telefonnummern hintereinanderwegsurren ließ, in einem perfekten Gleichmaß! Diese Perfektion aber muss den Ausschlag dafür gegeben haben, dass ich ihn trotz weiterbestehender Zweifel an seiner Identität noch anschrieb. In den Tagen nach dem Anruf nämlich begann mich diese Sprech- und Vorleseweise an seine makellose Schrift zu erinnern, die ich einige Zeit zuvor wieder zu Gesicht bekommen hatte: Wie in sich kräuselnden Wellenzügen folgten hier die leicht nach links geneigten blauen Zeilen aufeinander!
Ein Fall von synästhetischer Erinnerung also, ohne die ich diese Spur vielleicht aufgegeben hätte. Auf mein Anschreiben hin rief er mich dann an; schon nach wenigen Sätzen hörte ich wieder Vertrautes heraus, wie üblich vor allem bei unwillkürlichen Reaktionen wie dem Zögern und Stimmerheben.
Wochen später besuchte ich ihn. Als er mir von oben her im Hausflur lächelnd entgegentrat, war mir, in heller Wiedersehensfreude, als blickte ich in tiefer Zeitenferne mir selber ins Gesicht! Kein Erschrecken diesmal, nichts Unheimliches war dabei, nur die Freude, ja überströmende Sympathie und dieser vorüberhuschende, aber unabweisbare Eindruck, mich selbst in tiefer Vergangenheit zu erblicken. Sollte dieser Vorgang nicht erneut als Synästhesie aufzufassen sein? Es war ja viel mehr als die bloße Freude, meinen Banknachbarn wiederzusehen; sie wurde offenbar unterströmt von Empfindungen freundschaftlicher Nähe, die lange verschüttet waren und in dem Moment hervorbrachen, stark wie nie, als ich ihn erblickte. Sie „sah” ich nun wie abgespiegelt in seinen Gesichtszügen, sah ihre Quelle, mich, der so empfand. Begünstigt durch den tatsächlichen Zeitvergleich, der in diesem Augenblick vor sich ging. Denn beim Wiedersehen musste ich ihn ja zugleich wiedererkennen, musste die Physiognomie des Jugendlichen, die ich nicht mehr genau in Erinnerung hatte, aus dem lächelnden Gesicht des 50jährigen herauslesen. Ein visuelles Identifizieren, das dieselbe große zeitliche Distanz zu überbrücken hatte, wie meine Sympathie, die so lange verdeckt geblieben war.
Ich kann mir diese visuell-emotionale Konfusion nicht besser erklären, zumal mir in den nachfolgenden Stunden seine physiognomische Eigenart markant und unübersehbar vorkam. Nun war zwar wie bei Prousts großen Erinnerungseinbrüchen die Zeitendifferenz in ihrer Tiefesehr wohl wahrzunehmen; doch spürte ich nicht das ‚ehemalige Ich’ in mir, das einst empfand und wie es
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