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VI GERMANISTICA

ZU PROUSTS ,ICH IN MIR’

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nicht diese alten, uns immer noch irritierenden Regungen vitaler als die üblichen Antriebsgründe unserer gegenwärtigen Existenz? Letztere erschöpft sich ja oft genug in Problemlösungen, die uns von wechselnden fremden Umständen abgefordert werden; so dass wir die Gegenwart fortlaufend verbrauchen zugunsten unserer nächsten ephemeridischen Präsenz, bis wir uns unversehens auf einer Gegenwartsstufe wiederfinden, von der wir als unserer Zukunft kaum eine Ahnung haben konnten und auf der wir darum mit unserer Vergangenheit immer weniger anfangen können.


Wer für sich verantwortlich bleiben möchte und darum akzeptiert, dass auch Längstabgelegtes noch zu uns gehört, dass auch die enttäuschten Erwartungen und nicht zuletzt überwundenes Fehlverhalten unsere Identität ausmachen und jeder vergangene und künftige Lernschritt sich unserem allerengsten, kindlichen Horizont verdankt, der wird sich weiterhin für das Proustsche Kon­strukt der in uns bewahrten und in der Erinnerung wiederzubelebenden ‚Ich’-Momente erwärmen können. Und wird auch für möglich halten, dass ein bestimmter Moment in seiner vollen Empfindungsqualität wieder in uns erstehen kann. Dass die Er­in­ne­rung hierbei zeitüberschreitenden Charakter gewinnt, kann allerdings nicht bedeuten, dass die damalige Situation und auch nicht das damalige Ich als fixe gespeicherte Wesenheiten wieder auftauchen. Wieder präsent sein in der Erinnerung kann lediglich die see­lische Repräsentanz der damaligen Situation, in die ‚Ich’ involviert warpräsent in uns, in unserem gegenwärtig bewussten Ich, und nicht etwa statt seiner, so, als könnte das eine durch das andere „ersetzt” werden. Im übrigen hat Proust wie kein an­de­rer auf die Differenz der Zeiten aufmerksam gemacht, indem er das Wiederaufsteigen aus den Tiefen des Gedächtnisses minuziös be­schreibt und ausführt, wie das Erlebnis, das sich damals, dem Erlebenden nicht bewusst, mit einem bestimmten sinnlichen Ein­druck verknüpfte, nur dank eines analogen sinnlichen Bezugspunkts in der Gegenwart wieder in Erscheinung zu treten vermag.


Nun beschreibt Proust in seiner Recherche kaum mehr als ein Dutzend solcher Erinnerungsdurchbrüche. Und was da in Er­in­ne­rung tritt, ist ja in seinem Gehalt vergleichsweise dürftig, es sei denn, es wird wie bei der Madeleine-Szene grotesk ausgeweitet (als hätte der Lebensraum Combray, der da zugleich mit der aufsteigenden Erinnerung schlagartig entfaltet worden wäre,[5] der willkürlichen Erinnerung wirklich unzugänglich bleiben müssen). Auch ist eine derartige Wiedererstehung, in der selbst das kost­bar­ste Erlebnis nur im Schlepptau des Zufalls sinnlich herangeführt werden kann und ohne ihn für immer verschollen bliebe, kaum ver­einbar mit der zugrundeliegenden Vorstellung, dass da ein Ich substantiell und unveränderbar in uns lebte oder bloß ver­harr­te (nicht zu reden von einer Schar solcher Ich-Gestalten). Die Empfindung, als stiege das Erlebnis und außerdem das Ich in 

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[5] Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Erster Teil: Combray. Werkausgabe Suhrkamp, Deutsch von Eva Re­chel-Mertens (Frankfurt/M. 1964), Bd. 1, S. 65-67

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