BESUCH ALS KORREKTIV: WIEDERSEHEN UND -ERKENNEN NACH JAHRZEHNTEN
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glaubte
ich während
des Besuchs „empfunden zu haben, inwiefern ich mich damals bei ihm
wohlfühlte: dass er wohlwollend und großzügig war”. Das war
schon beinahe alles, was ich sogleich nach dem Besuch zu seiner
Ausstrahlung notierte, und behauptete damit doch nichts
Geringeres als eine
emotionale Wesensnähe,
das
Wiederverspürthaben
eines
uralten
und für mich lebenswichtigen
Vertrauens,
von dem er bei mir nichts eingebüßt hätte, was auch immer ich mir
im einzelnen über seinen Werdegang als ehemaliger
„Flüchtlingslehrer” in einem dörflich-katholischen Milieu
denken mochte. – Wochen später erst erkannte ich seine
im Gespräch erwähnte Art, uns die Buchstaben mit Hilfe einer
lautnahen Gebärdensprache beizubringen, bestimmt wieder.
Allerdings kann oder vielmehr mag ich nachgerade nicht mehr
unterscheiden, ob ich ein auf die Dorfschule projiziertes
Phantasiebild, das ihn undeutlich und alterslos bei der Ausführung
dieser Gebärden zeigt, noch von seiner jüngsten Demonstration
her dorthin übertragen habe, oder ob dies ein altes, erst jetzt
wieder in mir erwecktes Erinnerungsbild ist.
*
Gut zwei Jahrzehnte
nach dem Abitur stattete ich meinem
letzten und hochgeschätzten Klassenlehrer, mit dem
ich den Fächern Deutsch, Religion und Philosophie so manchen Strauß
gefochten hatte, einen Besuch ab und übergab ihm dabei mein jüngstes
Buch über den Verfasser des ersten „nihilistisch”-atheistischen
Buchs der Moderne! Das sollte wirklich keine provokative Geste sein,
setzte aber in der Sache ohne weiteres unsere damaligen
Streitgespräche fort. Auch diesmal glaubte er sich wieder mit
sanftem Tadel gegen eine religionskritische Bemerkung von mir
verwahren zu müssen.
Ich
hatte mich nicht angemeldet, klingelte einfach an seiner Haustür und
brachte mich in Erinnerung. Er schien doch stärker erfreut als
überrascht zu sein und bemerkte beim Abschied, dass ein solch
unangemeldeter Besuch im Grunde das beste sei. Seine Frau
versorgte uns mit Kaffee und Kuchen
und ließ uns dann allein. Er war seit einigen Jahren pensioniert und
hatte zuletzt ein Gymnasium in der Nachbarstadt geleitet. Meinen
Ausführungen zum einstigen, mich besonders in der Unterstufe so
bedrückenden Schulleben widersprach er nicht und
äußerte sich auch nicht zu einzelnen Kollegen. Wie bald deutlich
wurde, konnte er sich an bestimmte Ereignisse in unserer Klasse
und an meine Mitschüler nur noch vage erinnern, hatte er es doch,
wie er dann selbst erklärte, seitdem mit hunderten anderer Schüler
zu tun gehabt. Aus meiner Klasse habe ihn seit dem Abitur nur noch
Wim Wenders wieder besucht, ungefähr zwei Jahre vor mir.
Wir
sprachen von gleich zu gleich. Und doch durchschwebte unser Gespräch
der Geist unseres alten Lehrer-Schüler-Verhältnisses –
bei mir als Respekt, den ich nicht
abschütteln mochte, weil er den eigenen rebellischen Sinn und ebenso
den Großmut des anderen, ohne den er sich nicht hätte
entfalten können, in Erinnerung behielt.
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