dass
meine Folgerung, der andere hätte sich im Grunde gar nicht
verändert, so nicht zu halten wäre? Ich ging daher meine
Aufzeichnungen, die ich mir oft in den ersten Stunden nach
einem Besuch gemacht hatte, in dieser Hinsicht genauer durch:
Die wichtigsten
Elemente bei der Wiedererkennung waren
Stimme, Körperhaltung und emotionale Reaktion des anderen, weniger
geistige Merkmale wie Argumentations- und Ausdrucksweise, auf die ich
erst in später Jugend genauer achtzugeben verstand. Was den
allerersten Wiederanblick
der Person betrifft,
so gab es niemanden, den ich nicht auf Anhieb oder nach Sekunden
wiedererkannt hätte; selbst dann nicht, wenn ich vorher
die Physiognomie nicht mehr aus der Erinnerung heraus zu beschreiben
wusste. In diesem Fall waren bei mir offenbar sogleich intuitive
oder unbewusste Mechanismen der Identifizierung am Werk. Und
sicherlich auch immer dann, wenn ich jemandes
Ausstrahlung zu
erfassen suchte, das, was mich an der Person einst faszinierte und
sie nicht hatte vergessen lassen. Merkmale, die sich bei dem anderen
nun ihrerseits weithin unwillkürlich oder unbewusst
herausgebildet haben dürften, so dass sie nicht so
leicht zu überspielen sind und meist noch nach Jahrzehnten
kenntlich bleiben. Und doch – selbst wenn sich die gewisse
persönliche Ausstrahlung auf diese Weise durchhalten konnte, bleibt
da immer noch jene Kardinalfrage, ob ich mich nicht als Kind und
Jugendlicher allzu leicht durch Auffälligkeiten beeindrucken ließ,
die gleichwohl unwesentlich waren. So dass meine
Wiedererkennungsfreude oder auch Enttäuschung nicht unbedingt etwas
darüber besagte, ob und inwiefern der Betreffende sich nun wirklich
verändert hatte oder nicht. Und hat nicht ein jeder zu einem
bestimmten Zeitpunkt auch
unentfaltete Eigenschaften,
die zu seinem Wesen gehören und die man als entfaltete dann als
wesensfremd verkennen müsste?
Dessen
eingedenk, stelle ich im Folgenden kursorisch eine Reihe von weithin
anonymisierten Personen vor, vermerke die ungefähre
Zeitentiefe unserer Wiederbegegnung und behalte auch im Auge, ob das,
was ich über den anderen und über mich erfuhr, wirklich so
wenig Einfluss auf meine Erinnerungsbildung und auf mein
Selbstverständnis hatte.
*
Nach 44 Jahren
besuchte ich meinen
Erst- und Zweitklasslehrer,
den ich in der Erinnerung nur noch vage zu beschreiben wusste: „Er
ist jung und ist ernst. Ich fühle mich bei ihm wohl. Er trägt ein
helles Sakko und hat gewelltes dunkles Haar.” Monate vor meinem
Besuch hatte mir einer seiner langjährigen Kollegen Schulphotos
zugesandt, auf denen ich ihn ohne weiteres erkannte. Obgleich
mir dann nicht einmal die Stimme dieses Lehrers, der sich als
„Slowakendeutscher” bezeichnete, bekannt vorkam,