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III Zu Wim Wenders
IV Film und Kindheit
V Mitschüler/Schulen
VI GERMANISTICA
BESUCH ALS KORREKTIV:  WIEDERSEHEN  UND  -ERKENNEN  NACH  JAHRZEHNTEN

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Nach ungefähr 40 Jahren meldete sich auf mein Schreiben hin Wolfgang, einer meiner frühesten Spielkameraden, auf dem An­ruf­beantworter. Die Stimme erkannte ich nicht wieder und hörte nur eine „trockene Diktion aus dem Ruhrgebiet” heraus. Beim Besuch be­merk­te ich nicht einmal, dass sein mich irritierender Augenfehler andeutungsweise schon bei dem Kind zu sehen war, so je­den­falls auf einem mir nachgereichten Photo. Dabei hatte ich noch vor dem Besuch notiert, dass er „die hellen, ein wenig wäs­se­ri­gen blauen Augen (nur auf einem Auge?) öfter zuzukneifen” schien. War dies meine ungenaue Reminiszenz an seinen Au­gen­fehler? Oder hatte er ihn als Kind auf eben diese Weise kaschieren können?


Während des Gesprächs erwähnte er sein gutes Langzeitgedächtnis und konnte wirklich, trotz mancher auch von ihm ver­ges­se­nen Episoden und Personen, erstaunlich viele Einzelheiten wieder aufrufen, die nun, in ihrer Fülle, meine eigenen Kind­heits­er­in­ne­run­gen wie umgeistern, ja, in sie einzudringen scheinen. Denn bei der Erinnerung an Personen und Objekte – weniger an Erlebnisse – möch­te ich spontan immer auch meine jüngsten Notizen daraufhin durchsehen, ob und was er, der lange dort einheimisch Ge­blie­be­ne, wohl dazu zu bemerken wusste. Und indem er durch dieses Wissen um Szenerien, Spiele oder Personen, die für mich schon wie verwunschen waren, fern und unberührbar durch andere, nun das vermeintlich Höchstpersönliche meiner Erinnerungen aus sei­ner Perspektive bestätigte oder mit Details anreicherte, erlöste er mich insofern aus meiner Empfindung einer le­bensgeschichtlichen Isolation und ließ mich wieder an so etwas wie Zeitgenossenschaft glauben, zumindest an eine in der Ver­gan­gen­heit.

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Nach 38 Jahren verabredete ich mich am Telefon mit jemandem, den ich als einen besonders rabiaten Burschen in Erinnerung hatte. Er sprach „kurz angebunden” und schien trotz seiner Zusage so desinteressiert zu sein, dass ich mich auf das Schlimmste ge­fasst machte. Mein Besuch widerlegte diese Erwartungen weithin, bestätigte sie jedoch hinsichtlich seiner gefürchteten Zor­nes­ausbrüche, als er mit einem Mal jemanden aus seiner Familie so maßlos empört anfuhr, dass ich überzeugt war, er müsste damals, bevor er zuschlug, genau so außer sich geraten sein. So überfallartig jetzt, dass es wirklich beklemmend war, hielt er sich doch im vorangegangenen Gespräch zu dritt betont diszipliniert zurück. Einige Male jedoch, als er engagierter seinen Stand­punkt vertrat, hatte ich „ihn” wieder vor mir, nämlich während einer gewissen Erstarrung, in der er, die Augen weit aufgerissen, merkwür­dig gepresst sprach oder knapp auflachte. Dies müssen damals die Momente gewesen sein, in denen er kaum mehr Wi­der­spruch ertrug und andernfalls, zum Zerreißen gespannt, sofort auf den Betreffenden losging.


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