RÜCK- UND AUSBLICK
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ausschließlich vom Menschen gesetzte zu verstehen, als solche in ihrer Relativität und individuell schwankenden Akzeptanz hinzunehmen und bei Bedarf Mal auf Mal zu revidieren.21
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21 Im Übrigen vermochte schon Dostojewskis Romanheld über den Nihilismus als einer alles zersetzenden Doktrin hinaus zu denken. Der Teufel, den der in Fieberwahn gefallene Iwan eben noch als sein abgespaltenes Ich durchschaut hat, argumentiert nämlich wie folgt: „Hat die Menschheit sich erst samt und sonders von Gott losgesagt – und ich glaube, daß diese Periode sich <...> vollenden wird – , so werden von selbst <...> das ganze frühere Weltbild und vor allem die ganze frühere Moral zunichte, und auf allen Gebieten bricht Neues an. Die Menschen werden sich zusammenschließen, um vom Leben alles zu nehmen, was es geben kann, aber unbedingt zu Glück und Freude einzig und allein auf der hiesigen Welt. Der Mensch wird sich gewaltig erheben im Geiste göttlichen, titanischen Stolzes, und hervortreten wird der Gott-Mensch. <...> Jeder wird begreifen, daß er sterblich ist, ganz, ohne Auferstehung, und wird den Tod stolz und gelassen hinnehmen wie ein Gott. <...> Da dies aber in Anbetracht der eingefleischten menschlichen Dummheit wohl noch in tausend Jahren sich nicht verwirklichen läßt, so sollte es jedem, der heute schon die Wahrheit begreift, erlaubt sein, sich ganz nach seinem Gutdünken einzurichten, auf den neuen Grundlagen. In diesem Sinne ist ihm ,alles erlaubt.’” Fjodor Dostojewski, Die Brüder Karamasow (Berlin und Weimar, 3. Aufl. 1992), Bd. 2, S. 506f. (9. Kap. des 11. Buchs)
Der Roman Die Brüder Karamasow entstand 1878-80 und wurde 1884 ins Deutsche übersetzt. Im 3. Buch von Nietzsches Die fröhliche Wissenschaft (erschienen 1882) wird der Gedanke vom Tode Gottes mit ähnlicher Konsequenz als Faktum von „dem tollen Menschen” ausgerufen, der wie einst der Kyniker Diogenes am hellen Tag mit der Laterne auf der Suche ist: „Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! <...> Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? <...> Riechen wir noch Nichts von der göttlichen Verwesung? - auch Götter verwesen! Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! <...> Ist nicht die Grösse dieser That zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? <...> Ich komme zu früh, sagte er dann, ich bin noch nicht an der Zeit. Diess ungeheure Ereigniss ist <...> noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen.” Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 3 (München 1980), S. 480f. (Aphorismus 125). Vgl. ebda. die Aphorismen Nr. 108f. und 343f.
Die biologistische Metapher vom „Tod” Gottes dürfte auf Hegel zurückgehen, der im Schlusspassus seines Aufsatzes Glauben und Wissen (1802) das neuzeitliche christliche Glaubensgefühl charakterisiert. Hegel spricht hier von
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