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Scheler
angesichts des angeblich drohenden Nihilismus als Lösung vorschlägt,
ist im Grunde die zeitübliche derer, die nach
Dostojewski und Nietzsche ihre religiöse Gebundenheit zu
hinterfragen begannen und sich das Ausmaß der ihnen nicht mehr
garantierten Normen vorzustellen suchten. Mit einem Schlage
schien ihnen alles wegzubrechen: „Wenn
Gott tot ist, ist alles erlaubt”.19
Der
existentielle oder auch hysterische Schauder vor der neuen, in ihren
Dimensionen noch unbekannten Selbstverantwortung des
Individuums ließ sie nahezu reflexartig nach einem neuen
überweltlichen Halt suchen. Scheler hat die Tendenz
der geistigen „Entwirklichung” also dahingehend übertrieben,
dass der
Mensch, der sich aus der Natur „herausstellte”
und dem die Wirklichkeit überhaupt annihiliert
erschienen wäre, angesichts der Entdeckung seines dem „nun
weltexzentrisch
gewordenen
Seinskernes”20
vor die Alternative gestellt wurde, entweder im religiösen Glauben
Schutz zu suchen oder sich im metaphysischen Denken in ein Absolutes
einzugliedern. Eine solche Konfliktlösung ist allerdings
gerade als geistiges Verhalten nicht akzeptabel. Schon Schelers Wort
vom menschlichen „Geist” als dem „Neinsagenkönner” des
Lebens, der nicht nur alle Umweltverhältnisse auf eine
versachlichende Distanz bringt, sondern auch zur fortlaufenden
Distanzierung von der eigenen Tradition verpflichtet ist, erkennt ja
implizit die konstitutionelle Fähigkeit an, auch die überlieferten
metaphysischen Bindungen in Frage zu stellen und abzustreifen.
Dadurch annihiliert der Mensch aber durchaus nicht all seine
Bindungen und Normen, wie im nihilistischen Schockszenario
suggeriert wird; selbst nach der Verabschiedung eines Absoluten
ist
er nicht plötzlich im Nichts zu verorten, sondern hat weiterhin eben
in seinen „geistigen” Leistungen Bestand, zu denen der Komplex der sozialen und ethischen Normen gehört. Freilich sind sie nun als
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19
Iwan
Karamasows Diktum scheint noch heute als
nihilistisches Schreckgespenst
zu
taugen, wie etwa aus einer Bekundung der „Gemeinde Christi Trier”
hervorgeht: „Nihilismus
beschreibt
die trübste aller Weltanschauungen, deren
Anhänger alles Absolute leugnen und an nichts glauben. Danach ist
alle Existenz nutzlos und ohne Sinn. Der Nihilist lehnt
überlieferte Glaubensinhalte als völlig unbegründet ab. Er
verwirft
jede
objektve Wahrheit und alle sittlichen Wertvorstellungen, deren
Anhänger alles Absolute leugnen und an nichts glauben. Danach ist
alle Existenz nutzlos und ohne Sinn. Der Nihilist lehnt
überlieferte Glaubensinhalte als völlig unbegründet
ab. Er verwirft
jede
objektive Wahrheit und alle sittlichen Wertvorstellungen.”
URL
(mittlerweile deaktiviert):
http://gemeindechristitrier.blog.volksfreund.de/2006/05/14/wenn-gott-tot-ist-dann-ist-alles-erlaubt/
20
Scheler, a.a.O., S. 89f.
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