ZWEITER LEBENSRAUM: VON PHANTASIEBILDERN ÜBERWUCHERT
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Diese
beiden späten Lektüreassoziationen gehören wie jene späte
Rondell-Assoziation des Laufenlernens noch nicht zu den Bildszenen,
die sich in dem wie automatisch ablaufenden räumlichen
Erinnerungsschematismus
einstellen. Zwar scheinen sie in ihrem Märchencharakter
gut zu den Primärassoziationen,
den Lesephantasien des Acht- bis Zehnjährigen,
zu passen und könnten vielleicht durch wiederholte
Erinnerungstätigkeit fester damit
verknüpft werden. Doch wäre dies auch wünschenswert?
Wären sie hier, im Bereich meiner (früh-)kindlichen
Erlebnisse und Phantasien, nicht vielmehr deplaziert? Und
überdies ihrerseits aufgeladen mit
einer Assoziationskraft, die auf
diese Weise – wie etwa die Szenerie in Fouqués
Undine
mich weiter zu verwandten Szenerien in
Fontanes Romanen Effi
Briest
und Der
Stechlin
hinzieht – schließlich meine verschiedenen
Lebensabschnitte und Erfahrungsniveaus
ineinander verwirren müßte? Anders wäre es
dagegen mit der assoziativen
Lokalisierung
des
noch
bildlosen,
technisch mir noch nicht recht vorstellbaren
Laufenlernens.
Die Ansiedlung dieser Phantasieszene in dem Raumschema
des kleinen Rondells beim Hause der Großmutter
wäre mir lieb,
gehört doch dieser Vorgang auch biographisch diesem
Zeitraum an. Wird er dort einmal zusammen mit den
beschriebenen Primärszenen auftauchen
können? Und sei es „nur” als offenkundiges
Pseudoerlebnis wie meine Kinderwagenszene?
Wie
ich dann Jahre
später beim
Nachfragen von meinem Onkel erfahre, hielt ich mich bei diesen
Gehversuchen, die wohl schon eher kleinere Spaziergänge waren,
wackelnd und ruckelnd an einer seiner Krücken fest, behinderte
ihn, dessen rechtes Bein amputiert war, also
zusätzlich: Gleich nach dieser telephonischen Rückfrage
meine ich zu spüren, wie ich beim Laufen ruckweise
weitergezogen werde – oder steigt hier nur das
ähnliche, erst sehr viel später erfahrene Gefühl
wieder auf, wie es ist, wenn einem beim Fahrradfahren
jemand in die Lenkstange greift? Es scheint sich hier eine weitere
Pseudoerinnerung zu bilden.
Wiederum
Monate später: Denke ich nun an diese Situation,
erblicke ich
regelmäßig auf jener linken Straßenseite des Rondells
umrißhaft und dunkel ein kleines Kind an der
rechten Seite eines Erwachsenen, beide ein wenig schräg
von hinten rechts her gesehen (perspektivisch
also eine Pseudoerinnerung). Daraufhin
jedoch spüre ich, wie ich ruckartig vorwärtsgezogen werde und
sehe unmittelbar danach – und zwar diesmal
rechts(!) von mir, wenig unter Augenhöhe – eine Krücke, die
schräg nach vorn geneigt ist. Dieser Anblick scheint
authentisch zu sein.
Es
wäre dies nichts weniger als eine
von mir wiedereroberte Erinnerung,
eine, die so
ganz anders als etwa bei Marcel Proust
durch bewußte Akte
wie Nachfrage und szenische Rekonstruktion vorbereitet wurde. – Auf
einem Photo sehe ich übrigens, daß mein Onkel sein
eigenes Söhnchen tatsächlich links von sich gehen ließ.
Und meine mir nun auch über eine kleine Kuriosität meines
eigenen Ganges im klaren zu sein: eine fast
unmerkliche Schnepperbewegung des rechten, nach
vorn geworfenen Fußes, eine winzige
Verzögerung der flüssigen Bewegung, die rhythmisch
ein Hinken andeutet.
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