BESUCH ALS KORREKTIV: WIEDERSEHEN UND -ERKENNEN NACH JAHRZEHNTEN
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Nach ungefähr 40
Jahren meldete sich auf mein Schreiben hin Wolfgang, einer
meiner frühesten Spielkameraden,
auf dem Anrufbeantworter. Die
Stimme erkannte ich nicht wieder und hörte
nur eine „trockene Diktion aus dem Ruhrgebiet”
heraus. Beim Besuch bemerkte ich nicht einmal, daß
sein mich irritierender Augenfehler
andeutungsweise schon bei dem Kind zu sehen war, so jedenfalls
auf einem mir nachgereichten Photo. Dabei
hatte ich noch vor dem Besuch notiert, daß er „die hellen,
ein wenig wässerigen blauen Augen (nur auf
einem Auge?) öfter zuzukneifen” schien. War dies meine
ungenaue Reminiszenz an seinen Augenfehler?
Oder hatte er ihn als Kind auf eben diese Weise kaschieren
können?
Während des
Gesprächs erwähnte er sein gutes Langzeitgedächtnis und konnte
wirklich, trotz mancher auch von ihm vergessenen
Episoden und Personen, erstaunlich
viele Einzelheiten wieder aufrufen, die nun, in ihrer Fülle,
meine eigenen Kindheitserinnerungen wie
umgeistern, ja, in sie einzudringen scheinen.
Denn bei der Erinnerung an Personen und Objekte –
weniger an Erlebnisse – möchte ich
spontan immer auch meine jüngsten Notizen daraufhin
durchsehen, ob und was er, der lange dort einheimisch
Gebliebene, wohl dazu zu bemerken wußte.
Und indem er durch dieses Wissen um Szenerien, Spiele oder
Personen, die für mich schon wie verwunschen
waren, fern und unberührbar durch andere, nun das vermeintlich
Höchstpersönliche meiner Erinnerungen
aus seiner Perspektive bestätigte oder mit Details
anreicherte, erlöste er mich insofern aus meiner Empfindung
einer lebensgeschichtlichen Isolation
und ließ
mich wieder an so etwas wie Zeitgenossenschaft
glauben,
zumindest an eine in der Vergangenheit.
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Nach 38 Jahren
verabredete ich mich am Telefon mit jemandem, den ich als einen
besonders rabiaten Burschen in Erinnerung hatte. Er sprach
„kurz angebunden” und schien trotz seiner Zusage so
desinteressiert zu sein, daß ich mich auf das Schlimmste gefaßt
machte. Mein Besuch widerlegte diese Erwartungen weithin,
bestätigte sie jedoch hinsichtlich seiner gefürchteten
Zornesausbrüche, als er mit einem Mal jemanden
aus seiner Familie so maßlos empört anfuhr, daß ich überzeugt
war, er müßte damals, bevor er zuschlug, genau so außer
sich geraten sein. So überfallartig jetzt, daß es
wirklich beklemmend war, hielt er sich doch im
vorangegangenen Gespräch zu dritt betont
diszipliniert zurück. Einige
Male jedoch,
als er engagierter seinen Standpunkt vertrat, hatte
ich „ihn” wieder vor mir,
nämlich während einer gewissen Erstarrung, in der er, die Augen
weit aufgerissen, merkwürdig gepreßt
sprach oder knapp auflachte. Dies müssen damals die Momente
gewesen sein, in denen er kaum mehr Widerspruch
ertrug und andernfalls, zum Zerreißen gespannt,
sofort auf den Betreffenden losging.
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