ERINNERUNGSSPRACHE. - SELBSTERFORSCHUNG
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Als
ich im Alter von 48 Jahren mit der Niederschrift begann, erwartete
ich für die Zeit meiner Kindheit, das heißt bis zum Übergang
aufs Gymnasium im Frühjahr 1955, ein Manuskript von ungefähr 50-80
Seiten Umfang (es wurden bis dahin, in der ersten Niederschrift, an
die 400 Seiten)! Und hätte
zu Beginn nicht für möglich gehalten, dass ich mich auch noch für
meine späte Kindheit und Jugend interessieren würde,
meinte ich sie doch durchweg verständig durchlebt und in den
Grundzügen begriffen zu haben. Wie gegen meinen Willen wurde ich
überdies immer stärker zu einem zusammenhängenden Erzählen
hingerissen, gegen das ich mich bestens gewappnet glaubte. Die
Erinnerungsbeschreibungen meiner Jugendjahre (ab dem 14. Lebensjahr),
die sich schließlich kaum mehr von Sprache und Einschätzung des
Erwachsenen unterschieden, berücksichtigte ich deshalb nur noch
dort, wo sie für die grundsätzlichere Erinnerungsthematik von
Belang waren.
*
Vieles ist in
diesen Aufzeichnungen, die ich als
psycholiterarischen „Selbstversuch”[2]
verstand, für
mich zum ersten Mal überhaupt zur Sprache gekommen. Damals, als das
Kind es erlebte, mochte es nicht oder nur lakonisch darüber sprechen
und wusste sich kaum einmal jemandem anzuvertrauen. Hätte es damals
davon erzählen können, wäre alles dadurch in ein bestimmtes Licht
gerückt, von den Reaktionen der anderen berührt und
bald schon in meiner Erinnerung mit
deren Stellungnahmen verbunden, angereichert
und umgewandelt worden. Heißt dies nicht umgekehrt, dass all das,
was erst jetzt zu Wort kam, so armselig und relativ
zurückgeblieben es angesichts der vertanen Gespräche oft auch sein
mag, sich noch unverfälscht in mir halten konnte? Selbst wenn dies,
wie ich meine, auf eine Reihe von Erlebnissen zutrifft, so wurden sie
doch schon
während der Erinnerungsbechreibung seelisch neu integriert,
indem sie sich sogleich meinen späteren, seitdem gemachten
Lebenserfahrungen zu stellen hatten.
So
sehr ich auch durch Perspektive und Vokabular des Kindes das
Bescheidwissen des Erwachsenen zu unterlaufen und nach Möglichkeit
nichts hineinzulesen suchte in diese Bruchstücke und Episoden, die
ja allererst behutsam aufzulesen und zu sichern waren, so
unvermeidlich mußte ich doch alles zugleich in einem nie dagewesenen
Zusammenhang betrachten: Je besser ich
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[2]
Odyssee in die
Kindheit,
a.a.O., S. 41