Identifizierung,
daß es nur diese eine „entscheidende Dimension persönlicher
Identität”
gibt:
„ihre eigentümliche Intelligenz und Lebendigkeit, die durch
Entwicklungssprünge und Selbstwidersprüche
geprägt
ist
und sich nur so begreifen und verfolgen läßt”.[3]
Wie aber könnte
diese „in sich strittige lebensgeschichtliche Konsequenz” bei
einem so kurzen und in der Regel einmaligen Wiedertreffen
nach Jahrzehnten erkannt werden? Sie auch nur annähernd nach dem
Vorbild einer literarischen Biographie rekonstruieren
zu wollen, wäre absurd. Kein Lebenslauf strukturiert sich so, wie es
eine geistige Biographie a posteriori zu leisten vermag. Aber
wohl eben deshalb, weil der Fundus der persönlichen Merkmale, der
sich einst in unseren Begegnungen mitteilte, als
Verhaltensstil viel stärker unwillkürlich geregelt
ist als jemandes Schreibweise und auch kaum einmal gründlich wie
diese „überarbeitet” wurde, ist er so
zählebig, dass er
in der persönlichen Wiederbegegnung nach langer Zeit noch vorfindbar
bleiben oder doch in seinen Veränderungen vergleichend erinnert
werden kann. Und womöglich eben so schwankend und widersprüchlich,
wie ich es vorhin für einige der nach vielen Jahren wieder besuchten
Personen skizzierte. Ich sollte darum nicht weiter nach den
unterschiedlich charakteristischen Schichten unseres
Wesens oder danach fragen, ob sie mir eher damals oder eher
gegenwärtig verborgen (geblieben) sein dürften. Was mich
nach den Besuchen so deprimierte, war ja auch gar nicht die
Empfindung, jemanden verfehlt zu haben; sondern die, dass der
Betreffende von sich selbst so unendlich weit abgekommen zu sein
schien, obgleich ich ihn, wie unsicher oder undefinierbar auch immer,
wiederzuerkennen meinte. Betrübt war ich wegen der durchweg zu
konstatierenden Erinnerungsschwäche, sofern sie,
zumal bei partieller Gedächtnisstärke, Ausdruck der
Gleichgültigkeit gegenüber der eigenen Lebensgeschichte
zu sein schien.
Dabei
fühlte ich mich mitbetroffen, um das gebracht, was der andere aus
seiner Perspektive und von seiner weiteren Entwicklung her
hätte beisteuern können. Persönliche
‚Identität’,
die eigene wie die fremde, hat diesem Gefühl nach eine
wesentliche kollektive Dimension,
ohne die sie als individuelle, lebensgeschichtliche Kategorie nach
und nach verkümmern müßte. Die einzige Abhilfe besteht
darin, die eigene Vergangenheit in die Gegenwart herüberzunehmen und
sie mit anderen zu teilen: Sei es – eher selten – explizit durch
Erinnerungsakte, die als jeweils individuell gebrochene,
perspektivische Erweiterungen das Vergangene entfalten und erneuern;
sei es implizit durch einen – von Zeit zu Zeit neu zu überdenkenden
– Verhaltensstil und eine Problembewußtheit,
die es uns erlauben, uns auf der Höhe der eigenen Lebenserfahrungen
zu halten. Andernfalls ist jeder bald ein armer Tropf und
sich selber weithin abgestorben. Mit
sich identisch sein
hingegen hieße, als Ideal, sich so lebendig zu erhalten, dass
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[3]
Horst Fleig, Literarischer
Vampirismus. Klingemanns ,Nachtwachen von Bonaventura’
(Tübingen 1985), S. 177