IDENTITÄTSFRAGEN. - DURCHLÄSSIGKEIT UNSERER LEBENSABSCHNITTE
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Es
findet also in
einem fort, uns bewusst oder auch nicht, ein Erfahrungsaustausch
zwischen unseren Lebensepochen
statt.
Und obgleich ich in der Erinnerung an die unmittelbare Umgebung des
Hauses meiner Großmutter den Zeitraum meiner Kindheit von dem meiner
dort verbrachten Jugend gut auseinanderhalten kann und zunächst auch
muss, da ich von einem wie automatisierten visuellen Präsenzgefühl
geleitet werde (vgl. S.
5ff.),
so kann ich doch in der Erinnerungsanalyse
den
einen Zeitraum mit dem anderen vergleichen, ohne diesen Vergleich
selbst als Erinnerung ausgeben zu müssen. Und kann so das Bild
meiner Großmutter komplettieren, für das ich jedoch nicht mehr die
kindliche Bezeichnung („meine Oma”) wählen würde.
Eine solch mögliche
Ergänzung und Relativierung vieler zeitlich auseinanderliegender
Einzelzüge liefert nun allerdings noch längst nicht den Beweis
dafür, dass alledem auch eine lebensgeschichtliche Folgerichtigkeit
oder nur Stimmigkeit zugrunde liegt. Sogar ich selbst erschien mir in
ein und demselben Lebensabschnitt immer wieder befremdlich
widersprüchlich, war im Alter von ungefähr zehn als derjenige zu
beschreiben, der sich immer tiefer in sich zurückzog und unversehens
als eine Art Blonde Bestie auftrat, die drei Gegner auf einmal
anzuspringen fähig war; war das erschlagene Opfer im Blutsonnenbild
und zugleich unverwundbar in meiner
Unsterblichkeitsvision; sagte mich als Dreizehn- oder
Vierzehnjähriger im dezidierten Wahrheitsverlangen vom
Kirchenglauben los und brillierte zugleich in der Schule mit diversen
Mogeltechniken; erschien in diesem Alter auf einem Photo mit
selbstgebasteltem Seenotrettungsflugzeug in der Hand, während im
Hintergrund eine von mir gezeichnete mörderische
Abschussszene mit mir in der Rolle des Abfangjägers zu sehen war.
Noch einmal also: Was
ist einer und woran wäre er, wenn überhaupt, verlässlich zu
erkennen?
*
Als
ich mir die Frage nach jemandes Identität zum ersten Mal in
systematischem Zusammenhang stellte, 1973 nämlich zu Beginn meines
Versuchs, ein
literarisches Pseudonym zu identifizieren
(„Bonaventura” als Verfasser des 1804 erschienenen Romans
Nachtwachen),
behauptete ich hypothetisch, dass das
unverwechselbar Charakteristische,
ohne das keine Identifizierung möglich wäre, nicht in diesem oder
jenem einzelnen (stilistischen) Merkmal vorzufinden sei, sondern nur
in der wie immer auch schwankenden Kombination oder Konfiguration
solcher Merkmale.
Und stellte in diesem Sinne eine Reihe von mikrostilistischen, in den
Nachtwachen
feststellbaren sprachlichen Merkmalen auf, anhand deren ich andere
Arbeiten ihres Verfassers und so ihn selbst unter allen anderen
Autoren seiner Zeit per Exklusionsverfahren würde identifizieren
können; Merkmale also, von denen nicht ein einziges von
Dauer sein müßte. Nach dieser Identifizierung via negationis erwies
sich auch auf den weiteren Stufen der affirmativen
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