HELMUTH PLESSNER
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Wo die Grundbedingungen der Existenz, die dem anderen gegenüber Respekt und Distanz gebieten, verletzt werden, ist der Mensch zu einer neuen – und sei es revolutionär erstrittenen – Organisation des Zusammenlebens berechtigt.65
Seine fundamentalethischen Thesen hat Plessner in der Folgezeit als kritischer Zeitgenosse immer wieder konkretisiert, dies nicht zuletzt in kultursoziologischen Studien wie der zu Beginn seines Groninger Exils verfassten Schrift Das Schicksal des deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche (1935). Sie fand erst 1959 unter dem Titel Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes weithin Beachtung und behandelt die sozialethische Abstumpfung des deutschen Bürgertums, dessen protestantisch-idealistische Ideologie der ,Innerlichkeit’ in ihrem Ressentiment gegen die Sphäre der Politik bei gleichzeitiger Verherrlichung technologischer Effizienz dem Nationalsozialismus zugearbeitet habe. Für die Zukunft sah Plessner besonders in den genetischen Technologien ein gefährliches Potential:
„Nachdem der Nationalsozialismus mit dem Biologismus Ernst gemacht hat, scheint die Sache ein für allemal erledigt zu sein. Aber man täusche sich nicht, ihre Aktualität ist ungebrochen. Die Frage einer möglichen Planung der Erbsubstanz überlebt die dilettantischen Theorien aus der Zeit der letzten Jahrhundertwende und die verbrecherische Praxis des Dritten Reiches. ... In ein, zwei Dezennien wird es der schöpferische Eingriff in das Leben selbst sein, der die Politik zu Entscheidungen zwingt.”66
Über den möglichen Ausgang solcher Entscheidungen macht sich Plessner nichts vor. „Der Homo Faber ... wird auch aus Menschen Instrumente machen, wenn es ihm in den Kram paßt.”67 Das ist salopp in der Redeweise derer formuliert, die so leichtfertig oder schon gewissenlos vorgehen würden und stimmt zugleich zu Plessners Theorem, dass der Mensch die eigenen Grenzen immer weiter hinauszuschieben und dabei neue Risiken einzugehen habe.
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65 a.a.O., S. 345
66 Die Emanzipation der Macht (1962); Wiederabdruck des Aufsatzes in dem Sammelband Diesseits der Utopie. Ausgewählte Beiträge zur Kultursoziologie (Düsseldorf/Köln 1966, S. 190-209 (Zitat S. 200)
67 In dem Vortrag Unmenschlichkeit (1966); abgedruckt in Diesseits der Utopie, a.a.O., S. 221-229 (Zitat S. 225)
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