MICHEL DE MONTAIGNE
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Unbehagens
und Leidens. „So sind
wir niemals bei uns,
wir sind stets außerhalb. Furcht, Verlangen und Hoffnung schleudern
uns der Zukunft entgegen und berauben uns des Gefühls und der
Wertschätzung dessen, was ist”.12
Das
Ich selbst,
der uns nächste und verlässlichste Erkenntnisgegenstand, bietet der
Introspektion zwar keinen absoluten Halt und zeigt
sich, kaum anders als die in ihrer Polyphonie faszinierende Kultur-
und Geistesgeschichte, als ein
ständig und im Letzten unbegreiflich sich Veränderndes.13
Keineswegs
aber läuft dieser introspektive Relativismus auf einen
Solipsismus hinaus, im Gegenteil, der in der Selbsterforschung Geübte
erweist sich als fähig, die anderen weit besser zu verstehen und, zu
deren Überraschung, nicht selten besser als sie sich selber.14
Überhaupt
hat der Rückgang auf das Individuelle exemplarischen Charakter,
lautet doch Montaignes über ein Leben hin gewonnene
Überzeugung: „Jeder
Mensch trägt die ganze Gestalt des Menschseins in sich.”15
Die
skeptische Offenheit seines Menschenbildes führt auch nicht etwa zur
Resignation, sondern verpflichte zur Toleranz. Wir sollten uns schon
„in Anbetracht unserer Fehlbarkeit bei unsren Meinungsumschwüngen
bescheidner und zurückhaltender aufführn”.16
Ebenso dienen die so zahllosen Anekdoten, Ansichten und
Lehrmeinungen, die er aus der Geschichte anführt, nicht
der Sicherung eines fest definierbaren anthropologischen Wesenskerns,
sondern primär dem relativierenden Nachweis von Differenzen und
Spielarten auf allen erdenklichen Gebieten, von denen eine jede mit
zur Konstitution des Menschen gehöre. Entsprechend habe man bei der
– gewaltfreien – Erziehung des Kindes vor allem darauf
Wert zu legen, dass dessen zarte Unbefangenheit und Offenheit der
Entwicklung durch Förderung seiner Selbständigkeit und
Urteilskraft gestärkt
wird.17
Gegen
die naheliegende und verführerische Gefahr, sich in eine alles
relativierende Beliebigkeit oder in Gleichgültigkeit
zu verlieren, beruft sich Montaigne auf ethische Grundsätze wie den
obersten der Gerechtigkeit,
deren Garant
und Hüter wiederum keine
von außen vorgegebene Instanz wie die Religion sein könne, sondern
allein ein Allerpersönlichstes, das Gewissen.
Es ist für ihn keine irrationale Instanz, sondern die
intimste Form des Wissens,
des
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12
I
3, S24
13
II
12, S. 354-359 14
III
13, S. 457
15
III
2, S. 34 („Chaque homme porte en lui la forme entière de l'humaine
condition.”) Jean-Yves Pouilloux bemerkt dazu in seinem
Aufsatz La
forme maîtresse,
dass man aus dieser Formulierung beinahe die Erklärung der
Menschenrechte ableiten könnte, zwei Jahrhunderte vor ihrer
Deklaration. In: Montaigne
et la question de l'homme. Coordonnée par Marie-Luce Demonet (Paris
1999), S. 33-45 (Zitat S. 33) 16
II 12, S. 356 17
I 12, S. 231-236