Psychobiologisch
Sinn
machen
dürften sogar die vielen banalen
und
gleichgültig lassenden Gedächtnisinhalte,
diese eigentlich irrelevant gewordenen Ortskenntnisse, all das
Detailwissen um längst überholte technische Abläufe sowie
Erinnerungen an x-beliebige Leute. Denn sie versichern uns unserer
Dauer bei ständigem Wechsel in Raum und Zeit, unserer Beharrlichkeit
trotz der immer wieder fälligen Loslösung und Distanzierung. Auch
sie spielen hinüber ins Geistige, dokumentieren gewissermaßen noch
in den Umrissen unsere Umgebung und den Radius unserer Aktivitäten
und führen uns gar, gerade in ihrem ärgerlich banalen
Grundcharakter, die eigenen Abhängigkeiten mitsamt
unseren desinteressierten und wenig inspirierten Reaktionen noch
einmal vor Augen – ob nun als Stachel oder nur als Symptom der von
uns vertanen Lebensmöglichkeiten.
Es gibt da
allerdings
eine letzte Grenze des Erinnerns und all seiner Selbst-Erweiterungen,
eine unauflösbare und allgemeine Identitätsproblematik:
Ein
jeder „besitzt” immer unendlich mehr Erfahrungen und Kenntnisse,
als ihm je wieder bewusst werden könnten. In der Begegnung mit
meinem wie verschütteten Ichphantom stand dies als Provokation und
Ahnung zu Beginn dieser Recherche; und erscheint in verwandelter,
selbstbewusster Gestalt an ihrem Ende wieder, als Einverständnis
damit, dass – nach gehöriger Erinnerungsarbeit
freilich – der Großteil dessen, was im Gedächtnis verwahrt ist,
gleichwohl der willkürlichen Erinnerung unzugänglich
bleibt.
Am
drastischsten erfuhr ich es dort, wo etwas nur dank gewisser
Hilfsmittel oder auch nur zufällig wieder heraufgerufen wurde.
Während ich mir in der freien Erinnerung an eines meiner
Lieblingsmärchen, Andersens Seejungfrau,
kaum noch das dürre Handlungsgerippe bewusst machen konnte oder von
G. Sidneys Film Die
drei Musketiere nur
noch zwei Szenen anzugeben wusste, war beim Wiederlesen und
-betrachten festzustellen, dass ich nach Jahrzehnten noch mit
Dutzenden von Teilformulierungen und vielen
Einzelszenen vertraut bin. Dass diese Diskrepanz aber für so ziemlich
alles Erlebte gilt, belegten vor allem die zufällig erhalten
gebliebenen Tagebuchaufzeichnungen des bald Zehnjährigen (von Ende
Oktober 1954 bis Februar 1955). An
kaum eine Handvoll
der Geschehnisse, Aktionen oder
Zeichnungen konnte
ich mich frei erinnern, von denen ich beim Wiederlesen dann an die
hundert wiedererkannte.
Sie stehen nun für abertausende, die noch in mir schlummern, aber
durch bloße Erinnerungsanstrengung nie
und nimmer wieder zu erwecken sind. Und
wenn schon! Ein
solches von Details übersättigtes Wissen um die eigene
Vergangenheit suchte ich ja gar nicht; würde dies doch tendenziell
auf eine Lebenswiederholung mitsamt all den Belanglosigkeiten
und Verkehrtheiten hinauslaufen, während es mir von Anfang an primär
um Erweckung, Verständnis und Rekonstruktion dessen zu tun war,
was von mir und anderen auf der Strecke geblieben war, welche
Kompensationen in Frage kamen und inwiefern schon in der
unwillkürlichen Erinnerungsbildung selber neue Lebensmöglichkeiten
angeboten wurden.
Horst
Fleig
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