BIOGRAPHISCHE STIMMIGKEIT
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Weggefährten,
mit dem er nach Jahrzehnten wieder ins Gespräch kommt, wird er sie
trotz größerer Lücken und offensichtlicher Bevorzugung bestimmter
Hauptstationen und Wendepunkte denn doch als
einigermaßen konsequent anzuerkennen haben
–
auch wenn sie so manches Mal eine abweichende Verlaufsform hätte
nehmen und schließlich zu einem befremdlich anderen Ergebnis führen
können. Befremdlich aber wohl nur im dem eher äußerlichen Sinne
des Berufslebens und -erfolges, schwerlich kaum je einmal im Sinne
eines massiven charakterlichen Wandels, der mir nachgerade immer mehr
als etwas Wundersames vorkommen will und selbst bei sogenannten
Erweckungen, Bekehrungen, Sinnesänderungen und dergleichen im
Regelfall nur eine Aufblähung partieller Fähigkeiten der
Persönlichkeit auf Kosten anderer sein dürfte, die dafür
verkümmern müssen. Welch
eine Leistung
ist es nicht schon, den
einen oder anderen eigenen Verhaltens- oder Charakterzug bloß zu
dämpfen,
sei es, um dort, wo es nicht an die eigene Substanz geht,
verträglicher zu werden, sei es, damit man „auf sich selbst nicht
mehr hereinfällt”, wie Heimito von Doderer es einmal als
Kriterium für das Erwachsensein vorschlägt.[4]
Allen
Erinnerungslücken und so vielen Mutmaßlichkeiten und Ungewissheiten
zum Trotz scheint mithin so ziemlich jedermann dieses Grundvertrauen
in die eigene innere Biographie zu setzen. Gerechtfertigt sein kann
es freilich nur in unterschiedlichem Maße, hängt immer auch von dem
Anspruch ab, den einer an sich und sein Erkenntnisverlangen stellt;
ein Anspruch, der seinerseits darin begründet sein dürfte,
wie korrumpiert, behütet oder eben nicht man durch die eigene
Kindheit und Jugend kam. Für den, der sich nicht sonderlich
beschädigt fühlt, mag es ehrenwert sein, zu behaupten, gewisse
wichtige Erfahrungen wie Grundpfeiler seiner Existenz in
sich zu spüren und sich auf sie zu verlassen, ohne hier tiefer
nachgraben zu wollen. Zu Beginn meiner Recherche hätte
mich diese Behauptung aufgebracht, mittlerweile aber kann ich sie
akzeptieren, da ich mich davon überzeugt habe, dass es
wirklich Zeitgenossen gibt, die relativ ruhig und stetig ihren
eigenen Weg gehen durften; und dass dazu einige der
liebenswürdigsten und auch tapfersten Individuen
gehören. Was heißt, dass
die von mir hier vorgelegten Erinnerungsanalysen
nicht für ‚Kindheit’
oder auch ,Jugend’ schlechthin stehen,
sondern in vielem Ausdruck und Kompensation einer besonderen
seelisch-geistigen Verwilderung sind.
Beide
Fragen, die nach der inneren Konsequenz des Lebensganges und die nach
der Verlässlichkeit der Erinnerungen, konnten sich mir erst gegen
Ende dieser Odyssee stellen. Vorher waren sie irrelevant, da ich
diesem Abenteuer weder widerstehen konnte
noch wollte, angelockt nämlich durch die luftigen Erinnerungsbilder
vor dem Einschlafen und dann, 1976, förmlich initiiert
durch
jenen Schock vor dem Klingelschild des ehemaligen Elternhauses, als
ich dort auf ein verschollenes und mich anklagendes ‚Ich’-Phantom
traf.
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[4] Heimito von
Doderer, Die Wasserfälle von
Slunj (8.Aufl. München 1994), S. 155