BESUCH ALS KORREKTIV: WIEDERSEHEN UND -ERKENNEN NACH JAHRZEHNTEN
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So konnte auch ich
nicht alle Karten gleich auf den Tisch legen. Und traf hinwiederum
auf manch andere, unscheinbare
oder unwillkürliche Art der Verstellung.
Dazu gehört die übliche höflich-konventionelle Zurückhaltung zu
Beginn eines Gesprächs und besonders beim ersten
abtastenden Telefonat. Eine in langer Lebenserfahrung unmerklich
zugelegte Panzerung,
die sich allerdings früher oder später lockert. Am ehesten zeigte
es sich wieder an der Sprechweise. Schon in den ersten Minuten
pflegte es zu geschehen, dass jemand für kurz in einen
burschikosen Tonfall abrutschte oder dass ihm in der Überraschung
und Freude ein Ausruf oder eine Redewendung entschlüpften, an
denen er, wie mir schien, sogleich wiederzuerkennen war. Besonders
beredt werden kann jemandes Zögern, das Verarbeiten einer
Überraschung etwa im Stimmerheben oder im Auflachen – momentane
Verluste der Selbstkontrolle oder Phasen nachlassender
Konzentration, in
denen die alten jugendlichen oder kindlichen Reaktionsformen erneut
ihre Rechte behaupten.
Es
waren immer nur Momente. Zumal ich im Laufe des Gesprächs längst
nicht mehr so empfänglich dafür war wie noch in den ersten Minuten.
So glaubte ich einmal nur bei den Begrüßungssätzen an der Tür die
Stimme des Kindes aus der des Erwachsenen
herauszuhören.
*
Während mir bei
einem altgedienten Soldaten gewisse autoritäre Einsprengsel wieder
einen kleinen inneren Ruck gaben („Hör mal!” oder „Achtung!”
und „Aufgepasst!”), wurde der eine oder andere durch die erst in
späterer Zeit erfolgte berufliche
Überformung seines Verhaltens
nahezu unkenntlich. Aß selbst hierbei ältere Eigenheiten oder
Angewohnheiten weiterzuleben vermochten, mehr schlecht als recht
zwar, ging mir in der Regel erst in der Nachbetrachtung des Gesprächs
auf. So gab sich Y., den ich als heiteren Springinsfeld in Erinnerung
hatte, nun, nach 28 Jahren, zum Verzweifeln seriös und betete seine
beruflichen Kompetenzen und Erfolge aller Art so brav
herunter, wie es einem leitenden Angestellten in seiner Region und
Branche wohl anstehen mag. Nur ein-, zweimal, beim Imitieren alberner
Zeitgenossen, lebte sein komisches Talent wieder auf. Zu seinem
routinierten Eigenlob fiel mir erst viel später ein, dass
er sich schon als Jugendlicher wiederholt mit spielerischem Mutwillen
vor uns brüstete, damals noch in charmanter Selbstironie; sie
zumindest schien ihm inzwischen ein für allemal abhanden gekommen zu
sein, nicht aber seine nun befremdlich skrupellose Lust zur
Selbstdarstellung.
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