GESTALTEN DES VERGESSENS
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Dieses
allmähliche mentale
Nachsickern von Sachverhalten, die man auf
Anhieb in Frage stellte, dürfte jedermann so oder so ähnlich von
sich kennen. Sogar X., der in seinem Erinnerungsvermögen offenbar
erheblich gestört war, erklärte in einem Nachgespräch,
dass meine Angaben zu seinen Schul- und Wohnungswechseln denn doch
zuträfen. Mit den meisten ehemaligen Weggefährten führte
ich keine weiteren Nachgespräche mehr, vermute aber, dass auch sie
ein solches Ereignis, bei dessen Erwähnung sie mich
zunächst einmal fragend anschauten oder die Sache gar in Abrede
stellten, beim Nachsinnen für immer plausibler hielten.
Gut verfolgen konnte ich dies bei einer schon betagten Person, die
ich als einzige mehrmals besuchte. Von Besuch zu Besuch wäre ihr der
fragliche, relativ schmale Zeitraum unserer gemeinsamen Bekanntschaft
immer detaillierter und plastischer vor Augen getreten.
Zuletzt freilich musste ich konstatieren, dass der Betreffende ein
über 50 Jahre zurückliegendes markantes Erlebnis, von dem
er mir erst im Vorjahr berichtet hatte, inzwischen glatt vergessen
hatte (womöglich ein seelisches Alterungsphänomen).
Nur
ein Mal kam es vor, dass jemand
sogar seinen ausgeprägten früheren Verhaltensstil hartnäckig
verleugnete. Unser
Gespräch ergab sich allerdings aus einer zufälligen Begegnung, ohne
dass also der andere sich hätte einstellen können auf die bei einem
angekündigten Besuch möglichen und in Grenzen auch
erlaubten Zumutungen. Als ich nämlich von ihm erfuhr, dass er
beruflich mit der Betreuung von jugendlichen Gewalttätern zu tun
hatte und ich etwas vorschnell, weil ich mich darüber freute, die
Bemerkung machte, dass dies denn wohl eine Art Sublimierung
wäre, da er ja als Jugendlicher selbst auf den eigenen handfesten
Ruf bedacht und stolz gewesen wäre, schien er mich nicht zu
verstehen und knurrte nur abweisend: „Nicht, dass ich wüsste!”
Ich fragte mich sogleich, ob es ihm nur unangenehm war, oder ob
jemand wirklich gewisse frühere Wesenszüge so massiv verdrängen
kann. Im Lauf der Jahre jedenfalls, bei zwei weiteren zufälligen
Wiederbegegnungen, war er sichtlich bemüht, wie gekränkt an mir
vorbeizublicken oder rasch einen Gesprächspartner zu finden. Ich
konnte es mir nur so erklären, dass in dieser Sublimierung,
die seine Berufswahl für ihn zweifellos bedeutete, ein heftiges und
ihm kaum bewusstes Verlangen nach Wiedergutmachung
oder vielmehr nach einem „Ungeschehenmachen”
seines einstigen gewalttätigen
Treibens sich Bahn brach. Und um so elementarer, als seine
damalige, schon in Knabenjahren gefürchtete und von dem Jugendlichen
gesteigerte körperliche Gewaltbereitschaft ein
enormer seelischer Kraftakt war, mit dem er sich zum Schein dem
überstrengen soldatischen Gebaren seines Vaters unterwarf, um sich
zugleich von ihm, durch Übertrumpfung, zu befreien. Als Kinder hatte
uns die ähnlich lautlose Brutalität unserer Väter
verbunden. Wir sprachen damals nie darüber, spürten aber den
verwandten Erziehungsstil gewiss heraus und mochten deshalb eine
Zeitlang eine gewisse Sympathie für einander empfunden haben. Wo er
freilich mit dem väterlichen Regime durch aggressive
Überanpassung fertig zu werden suchte, hoffte ich meinem Vater durch
Meidung und (ostensibles) Desinteresse an seinem Beruf
und Hobby zu entkommen.
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