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Proust. Doppelgänger
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II  Reiseberichte
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IV Film und Kindheit
V Mitschüler/Schulen
VI GERMANISTICA

GESTALTEN  DES  VERGESSENS

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Dieses allmähliche mentale Nachsickern  von Sachverhalten, die man auf Anhieb in Frage stellte, dürfte jedermann so oder so ähnlich von sich kennen. Sogar X., der in seinem Erinnerungsvermögen offenbar erheblich gestört war, erklärte in einem Nach­ge­spräch, dass meine Angaben zu seinen Schul- und Wohnungswechseln denn doch zuträfen. Mit den meisten ehemaligen Weg­ge­fährten führte ich keine weiteren Nachgespräche mehr, vermute aber, dass auch sie ein solches Ereignis, bei dessen Er­wäh­nung sie mich zunächst einmal fragend anschauten oder die Sache gar in Abrede stellten, beim Nachsinnen für immer plau­si­bler hielten. Gut verfolgen konnte ich dies bei einer schon betagten Person, die ich als einzige mehrmals besuchte. Von Besuch zu Besuch wäre ihr der fragliche, relativ schmale Zeitraum unserer gemeinsamen Bekanntschaft immer detaillierter und pla­sti­scher vor Augen getreten. Zuletzt freilich musste ich konstatieren, dass der Betreffende ein über 50 Jahre zurückliegendes markantes Er­leb­nis, von dem er mir erst im Vorjahr berichtet hatte, inzwischen glatt vergessen hatte (womöglich ein seelisches Al­te­rungs­phä­no­men).


Nur ein Mal kam es vor, dass jemand sogar seinen ausgeprägten früheren Verhaltensstil hartnäckig verleugnete. Unser Gespräch ergab sich allerdings aus einer zufälligen Begegnung, ohne dass also der andere sich hätte einstellen können auf die bei einem an­ge­kün­digten Besuch möglichen und in Grenzen auch erlaubten Zumutungen. Als ich nämlich von ihm erfuhr, dass er beruflich mit der Betreuung von jugendlichen Gewalttätern zu tun hatte und ich etwas vorschnell, weil ich mich darüber freute, die Be­mer­kung machte, dass dies denn wohl eine Art Sublimierung wäre, da er ja als Jugendlicher selbst auf den eigenen handfesten Ruf bedacht und stolz gewesen wäre, schien er mich nicht zu verstehen und knurrte nur abweisend: „Nicht, dass ich wüsste!” Ich fragte mich sogleich, ob es ihm nur unangenehm war, oder ob jemand wirklich gewisse frühere Wesenszüge so massiv ver­drän­gen kann. Im Lauf der Jahre jedenfalls, bei zwei weiteren zufälligen Wiederbegegnungen, war er sichtlich bemüht, wie gekränkt an mir vorbeizublicken oder rasch einen Gesprächspartner zu finden. Ich konnte es mir nur so erklären, dass in dieser Sub­li­mie­rung, die seine Berufswahl für ihn zweifellos bedeutete, ein heftiges und ihm kaum bewusstes Verlangen nach Wie­der­gut­ma­chung oder vielmehr nach einem „Ungeschehenmachen” seines einstigen gewalttätigen Treibens sich Bahn brach. Und um so ele­men­tarer, als seine damalige, schon in Knabenjahren gefürchtete und von dem Jugendlichen gesteigerte körperliche Ge­walt­be­reit­schaft ein enormer seelischer Kraftakt war, mit dem er sich zum Schein dem überstrengen soldatischen Gebaren seines Vaters unterwarf, um sich zugleich von ihm, durch Übertrumpfung, zu befreien. Als Kinder hatte uns die ähnlich lautlose Bru­ta­li­tät unserer Väter verbunden. Wir sprachen damals nie darüber, spürten aber den verwandten Erziehungsstil gewiss heraus und moch­ten deshalb eine Zeitlang eine gewisse Sympathie für einander empfunden haben. Wo er freilich mit dem väterlichen Re­gime durch aggressive Überanpassung fertig zu werden suchte, hoffte ich meinem Vater durch Meidung und (ostensibles) Des­in­ter­esse an seinem Beruf und Hobby zu entkommen.

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