MACHTKÄMPFE INNERHALB UNSERER GEDÄCHTNISBILDUNG?
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Nun
mag man einwenden, dass eine derartige Wiederkehr zu Stätten
jugendlichen Umbruchs eine Ausnahmesituation ist, die zudem in
besonderem Maße halluzinatorische Wahrnehmungen begünstigt. Denn
die unterschiedlichsten Existenzmöglickkeiten, die damals noch dem
Jugendlichen vorschweben mochten und von denen er die eine oder
andere um ein Haar ergriffen hätte, auch die meist jugendlichen
Personen, die ihn damals zu interessieren begannen und die er oft
grußlos aus dem Auge verlor, all das dürfte mit seinem diffusen
Entwicklungspotential beim Anblick der alten Schauplätze noch zu
verspüren sein, konzentrierter denn je und um so verwirrender.
Insofern hat
das seelische Erlebnis des erstmaligen Wiederaufsuchens wirklich
Wahncharakter
und ist – als Krisis – wohl auch nicht mehr wiederholbar. Als
Krisis allerdings macht es auf verwandte alltägliche Abwehrpraktiken
aufmerksam, mit denen wir
unserer eigenen Vergangenheit wie einem lästigen oder bedrohlichen
Rivalen
gegenübertreten.
Verfügen wir doch anscheinend über subtile, unmerklich
funktionierende seelische Sperren und Ausgrenzungen, die uns stärker
auf die Erfordernisse der Gegenwart, auf uns noch
verbleibende Entwicklungsmöglichkeiten und vermeintlich produktivere
Tätigkeiten verpflichten sollen.
Dazu gehört die
von flüchtigen, gleichsam touristischen Besuchern der eigenen
Lebensstätten meist selbstzufrieden bekundete, aber auch dem schon
erfahrenen „Rückkehrer” immer wieder überraschende
unsolidarische Erleichterung, bestimmten Verhältnissen
ein für allemal entkommen zu sein. Außerdem gibt es viele Nuancen
zwischen Herablassung, Trauer und Verklärung, die emotional eine
unüberwindliche Distanz signalisieren, ein
Nichtmehrberührtwerdenkönnen,
das wirksamer als jedes Tabu ist. Bei gut dokumentierten
Lebenszeugnissen muss man freilich zu drastischeren Mitteln greifen.
Starke Befriedigung mag einem so das Vernichten alter,
unwiederbringlicher Fotos bereiten: 1975, ein Jahr vor jener
Rückkehr, zerriss ich viele Fotos aus der Zeit meiner Kindheit und
Jugend und fühlte mich gut dabei. Denn ich bestritt dadurch die von
bestimmten Erwachsenen - meist war es mein fotografierender Vater -
durch ihre penetrante dirigistische Anwesenheit behauptete Gewalt
über meine ersten Lebensabschnitte.
Auch an diese
Befriedigung, die sich beim Vernichten solch manipulierter Fotos
einstellte, wurde ich 1976 wieder erinnert, und zwar am Tag nach
jener ersten Rückkehr in meine Herkunft. Erschien am Ankunftsabend
in diesem Spätsommer vieles verschattet, verhuscht und
ahnungsreich, da die altgewohnten Blickbahnen beim Heranfahren in
meinem Volvo durch wucherndes Gebüsch weithin verdeckt blieben,
so lag nun am Tage alles entzaubert da und traten im Laufe der
nächsten Stunden, beim Durchstreifen jener Lebensräume,
Unmengen
nichtiger Einzelheiten ins
Auge, denen ich in der Jugend offenkundig niemals Beachtung geschenkt
hatte: Unwillen und Niedergeschlagenheit mischten sich zu der
wohltuenden
Empfindung, in dieser Umgebung nichts mehr verloren zu
haben. Trotz
dieser Befriedigung kam ich noch oft zurück und überzog mein
Terrain, diesen Lebensraum vom Niederrhein bis zu der
angrenzenden Ruhrgebietsstadt, in dem ich – bei drei Umzügen –
vom 2. bis zum 20. Lebensjahr aufgewachsen