BESUCH ALS KORREKTIV: WIEDERSEHEN UND -ERKENNEN NACH JAHRZEHNTEN
------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
mehr
von seiner Frau und mir bestritten werden mußte. Als er zum Abschied
einige Schritte voranging und ich seinen eigentümlich
geduckt-bedrückten Gang wiedererkannte, rührte mich dieser Anblick.
Und doch will mir nun auch dieser Gang als
einst von mir verkannter Ausdruck
seiner
heute erst manifest gewordenen Indifferenz vorkommen. Bin mir dessen
allerdings wiederum nicht sicher. Ließ ich mich damals wirklich so
täuschen und verkannte ich sein Verhalten so sehr, dass ich es als
couragiertes Abweichen von einigen uns strikt disziplinierenden
Verhaltensregeln nahm? Oder
vermag so mancher von Zeit zu Zeit von der einen Eigenschaft in eine
benachbarte überzutreten,
so dass er unter Umständen, auf anderem Niveau, noch einmal
zurückwechseln
könnte,
hier von der Gleichgültigkeit zum Gleichmut und von der
Nachlässigkeit zur Lässigkeit?
*
So
ernüchternd oder deprimierend die letzten Begegnungen für mich auch
waren, so zeichnete sich doch gerade in ihnen ab, dass gewisse
persönliche Eigenschaften bemerkenswert elastisch
sind. Ob als Verstellung, Überformung oder Karikatur – über
solche Kontrastbildungen sind offenbar jemandes
Wesenszüge oder das, was man dafür halten möchte, leichter
zu beschreiben als die Merkmale einer konsequenten
oder gar ungebrochenen persönlichen Entwicklung. Letztere scheinen
einem gerade deshalb zu entgleiten, weil sich bei der Wiederbegegnung
sogleich eine fraglose, altvertraute Nähe herstellt, die kein
Bedürfnis mehr nach ihrer Beschreibung aufkommen lässt. Wie bei
meinem ersten Lehrer das bald sich einstellende Wohlgefühl für mich
der authentische Ausdruck seiner großzügigen
Wesensart war, so wusste ich nach 30 Jahren über meinen späten
Schulkameraden D. nur erfreut zu notieren, dass er „in vielen
Hinsichten leicht wiederzuerkennen” wäre, physisch ebenso wie in
seinem herzlichen Lachen und im „Tenor einer leicht
zögerlichen Freundlichkeit”. Und bemerkte nach 37 Jahren über E.,
von dem ich vor dem Besuch nur noch zu sagen wusste, dass mir als
ungefähr Zwölfjährigem „seine ruhige und sanfte Art sympathisch”
war, hinterher beinahe dasselbe: „sympathisch, bescheiden
und doch aufmerksam, verständnisvoll”. Diese letzten, geringfügig
detaillierteren Eindrücke glaube ich nun, nach zwei weiteren
Jahren, schon bei dem Jugendlichen vorzufinden und kann für ihn
sogar die ruhige, volltönende Stimme des Erwachsenen
gelten lassen.
Mein
Verdacht, dass eine derart rasch sich wiederherstellende Sympathie
mich von der weiteren Beobachtung abhielt, wäre durch einige Leute
zu entkräften, die mir nach wie vor eher unsympathisch blieben und
bei denen ich mir sicher war, das wenige, was ich mir nach
dem Gespräch zur Person notierte, im Grunde schon vor Jahrzehnten
bei ihnen festgestellt zu haben.
Überhaupt brachte ich in
meinen vorbereitenden schriftlichen Erinnerungen oft nur wenige
persönliche Züge zusammen oder wusste kaum
mehr als die Ausstrahlung des Betreffenden zu
umschreiben.
Manchmal hatte sich da nicht mehr – aber auch nicht weniger –
erhalten als der spezifische
„Stubengeruch”, insbesondere bei den meisten Mitschülern aus der
späten Grundschulzeit.
- 31 -
Weiter